Märchen, Filme und Bücher haben eine eigenartige Qualität: sie können überwahr sein. Das bedeutet im Wesentlichen, dass was sie erzählen nicht wahr ist aber Wahrheiten vermitteln.
Kürzlich stolperte ich über eine interessante Debatte zu genau dieser Überwahrheit im Bezug auf den Film Schneewittchen von 1938 sowie dem Remake von 2025 und der interessanteste Teil lag auf der Metaebene. Der Film von 1938 wurde primär von Männern geschrieben (Leitung: Ted Sears), die 2025 Version vorwiegend von Frauen (Leitung: Erin Cressida Wilson).
In der Debatte wurde argumentiert, dass die Zwerge in beiden Fällen zu Beginn ihres Auftauchens exakt das Gleiche repräsentieren, es hier also Konsens gibt: Die Zwerge sind was passiert wenn Männer unter Männern leben: sie bauen ein Haus, sie Arbeiten, streiten, kooperieren, sind schmutzig und unordentlich. Sie sind produktiv und effizient, aber ihr Haus ist ein Haus und kein Heim.
In der Version von 1938 stolpert also Schneewittchen in das Haus der Zwerge und stellt fest, dass es hier an Heimlichkeit fehlt, und in Folge überzeugt sie mit femininem Charm die Zwerge ihren Modus Operandi zu wechseln und etwas zu tun das sich für die Männerpsyche als fürchterlich ineffizient anfühlt: Zeit aufzuwenden, um etwas schön zu machen. Sie selbst geht mit gutem Beispiel voran und schwingt den Besen.
Dieses Motiv ist nicht neu. Im Gilgamesch Epos, einem Werk, das vor fast 5000 Jahren niedergeschrieben wurde, verkörpert Enkidu den wilden Mann, der dann von einer Frau, Shamhat, „gezähmt“ wird und erst als Gezähmter, zivilisierter Mann, wirklich nützlich für die Gesellschaft ist. Enikido verliert bei diesem Vorgang Stärke aber das Epos vermittelt unmissverständlich, dass der Handel Stärke für Zivilisiertheit es mehr als wert ist und genauso ist es glasklar, dass diese Transformation ein Resultat des Einflusses einer Frau ist.
Wenn geistig gesunde Männer diese Geschichte erzählen, dann schwingt also immer die Idee mit, dass Männer zwar gut alleine Leben könnten aber das, was das Leben lebenswert macht, kommt mit dem Einfluss der Frau. Sowohl Schneewittchen als auch Shamhat verkörpern weibliche Ideale aus männlicher Sicht: Schneewittchen verkörpert Charm und zärtliche Überzeugungskraft, Shamhat pure Sexualität.
Wie aber verändert sich die Geschichte, wenn sie eine Frau schreibt?
Im Wesentlichen verliert Schneewittchen ihren Charm und überzeugt nicht, sondern belehrt damit die Zwerge endlich mal tun was „man halt tut“. Sie weist sie an, verteilt Aufgaben und plant dann die momentane Frau an der Macht (die böse Hexe die auch narzisstisch ist) zu ersetzen. Die Männer schrubben die Bude und sie sonnt sich in ihrer Rolle als Führerin.
Wichtig ist hierbei was als selbstverständlich gesehen wird und was nicht.
Die eher männliche Sicht auf die Sache ist, dass Frauen aus einem funktionellen Haus ein funktionelles und zusätzlich schönes Heim machen. Frauen machen also funktionierende Dinge besser.
Die eher weibliche Sicht ist (zumindest in dem gegebenen Fall), dass Männer ohne Frauen dysfunktional sind und es daher weibliche Führung braucht, um einen wünschenswerten Normalzustand herzustellen.
Schneewittchen von 1938 ergänzt die Zwerge und ist damit ein Upgrade das das System „Haus der Zwerge“ verbessert und lebenswerter macht, Schneewittchen von 2025 hingegen ist mit Dysfunktionalität konfrontiert und repariert das System „Haus der Zwerge“ das ohne sie nicht „wirklich“ funktioniert.
Ich fand diesen Ansatz recht interessant, weil es, jedenfalls zu einem gewissen Grad, einen Einblick in fremde Denkstrukturen gibt. Die Frage ist wie repräsentativ diese Einblicke sind.
Ich denke dass es sowohl Männer wie auch Frauen gibt die dem anderen Geschlecht unterstellen, dass sie ohne sie zu Grunde gehen würden, nicht nur langfristig biologisch, sondern unmittelbar.
Ich denke die Geschichte widerspricht dieser Ansicht.
Gegebenheiten zwangen oft Männer ohne Frauen und Frauen ohne Männer zu existieren und beide Gruppen können ohne die anderen mittelfristig existieren, sie bilden aber sehr unterschiedliche soziale Strukturen und ich denke die Synthese aus männlichen Strukturen und weiblichen Strukturen den „Reinformen“ überlegen sind.
Der Film von 1938 zeichnet so ein Bild: Schneewittchen allein und die Zwerge allein funktionieren aber die Mischung ist besser. Der Film von 2025 aber impliziert, eventuell, etwas anders: Schneewittchen allein funktioniert und muss sich mühsam mit den dysfunktionalen Zwergen herumschlagen, was dazu führt, dass sie mit den Zwergen weniger gut ist als ohne sie, weil sie Energie aufwänden, muss, um die Männer zu erziehen, Energie, die sie anders besser investieren könnte.
Die Mischung der Systeme ist hier schlechter als die weibliche Reinform.
Schneewittchen 2025 braucht die Zwerge nicht (denn das sie in ihrem Haus leben darf ist eine Selbstverständlichkeit), wohingegen die 1938 Variante sehr wohl dankbar dafür ist, dass sie im Haus der Zwerge leben darf und das nicht als Selbstverständlichkeit sieht.
Ein Gegenbeispiel bildet der Film Fightclub, wo die Implikation genau die Gleiche ist, nur eben auf den Kopf gestellt: Frauen machen in Fightclub das Leben nicht lebenswerter, sondern verkomplizieren alles, womit Fightclub, aus diesem ganz spezifischen Blickwinkel, ein Spiegelbild des gleichen Problems darstellt.
Wie schon gesagt, ich fand die Beobachtung interessant, obwohl ich ihr nicht völlig zustimme, aber sie würde das Verhalten, insbesondere der radikaleren Elemente, auf beiden Seiten, durchaus verständlicher machen und es bedarf eben eines Verständnisses des Wahnsinns um ihn zu überwinden.