Budapester Memorandum und EU-Sanktionen völkerrechtswidrig ? Krim-"Annexion" okay ?

Völkerrecht 2.0

Die Opfer der Ukrainekrise sollten keine sinnlosen sein

Betrifft: „Das große Tauziehen um die Ukraine“, Arnold Suppan, Presse, 4.12.2014

Anders als Arnold Suppan, aber ähnlich wie der deutsche Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) habe ich Zweifel, ob Putins Handeln in der Ukraine völkerrechtswidrig war. Überspitzt gesagt könnte die Lage die sein: die Integrationsrivalität ist, anders als Suppan behauptet, nicht das Resultat der Ukrainekrise, sondern ihre Ursache. Die territoriale Integrität, die der Westen (im Falle der Ukraine, aber nicht in anderen Fällen) für eine heilige Kuh hält und die im Normalfall auch ein wertvolles Gut ist, hat sich im Fall Ukraine als kriegstreibend und zu Kompromisslosigkeit verführend erwiesen.

Das von EUSA und auch von Suppan zur „Dämonisierung Putins“ (so Ex-US-Außenminister Henry Kissinger) ständig zitierte Budapester Memorandum, in dem USA, GB und Russland 1994 die Grenzen der Ukraine gegen Übergabe der ukrainischen Atomwaffen an Russland garantierten, ist möglicherweise rechtlich nicht bindend, wie die US-Botschaft im Kleinstaat Weißrussland behauptete: erstens, weil das Konzept der territorialen Integrität, das darin vorkommt, nur auf zwei Gruppen von Staaten anwendbar ist (kompakte Nationalstaaten oder heterogene Staaten mit föderalistischer Struktur) und die Ukraine weder das eine noch das andere war, sondern von extremen inneren Klüften gekennzeichnet z.B. zwischen katholisch-uniertem, ukrainisch-sprechenden Westen und russisch-orthodoxem, russisch-sprechenden Osten. Wegen dieser Klüfte ist auch das von Suppan angesprochene Mehrheitsprinzip ohne Zusätze eher kein Konzept zur demokratischen und friedlichen Entscheidungsfindung. Zweitens könnte das Budapester Memorandum rechtlich nicht bindend sein, weil das darin enthaltene Konzept der Grenzgarantie durch Großmächte und die damit verbundenen Gegengeschäfte der in der UNO-Charta festgeschriebenen Gleichberechtigung aller Nationen (was ein Verbot von Großmachtsprivilegien bedeutet) widerspricht.

Die sogenannte Annexion der Krim heuer erscheint auf jeden Fall weniger problematisch als die abstimmungslose Übertragung der Krim von Russland an die Ukraine durch den ukrainischen Sowjetdiktator Chruschtschow im Jahr 1954. Die mögliche Doppelmoral der EUSA, die sogenannte Krimannexion zu skandalisieren, und gleichzeitig die wohl problematischere Annexion Tibets durch China zu verschweigen, blieb bisher unbeleuchtet. Auch die in Hinsicht auf die territoriale Integrität des Irak problematische Bewaffnung der Kurden im Nordirak durch westeuropäische Staaten zu verteidigen, aber gleichzeitig die Bewaffnung der Ostukrainer durch Russland zu skandalisieren, ist zumindest in der Nähe der Doppelmoral.

Die OSZE ist möglicherweise dadurch diskreditiert, dass sie von den EUSA dominiert wird, und dadurch nicht den nötigen Anschein der Unparteilichkeit hat. In diesem Fall sollte eine Überwachung etwaiger Neuabstimmungen daher vielleicht eher von Vertretern derjenigen Staaten durchgeführt werden, die sich bei der UNO-Abstimmung zum Thema Ukraine der Stimme enthielten. Apropos UNO-Abstimmung: mit China und Indien enthielten sich die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt, die zusammen fast die Hälfte der Menschheit ausmachten, möglicherweise deswegen, weil sie sich nicht entscheiden konnten, welche der beiden Seiten die dämonischere ist: von eindeutiger Lage in der UNO kann so gesehen nicht gesprochen werden. Die UN-Charta enthält das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“; und das kann ein Hebel sein, um die Abspaltung der Krim und der Ostukraine zu rechtfertigen. Sowohl die Abspaltung des Kosovo als auch die Teilung Oberschlesiens 1920 könnten Präzedenzwirkung haben bzw. bekommen.

Das Vorliegen und die Feststellung von wirklich stattfindenden Menschenrechtsverletzungen ist – anders als Suppan behauptet - nicht unbedingt die einzige Legitimation für militärisches Eingreifen im Rahmen der „responsibility to protect“; sowohl internationales Recht als auch nationales Recht enthalten genügend Elemente präventiven Handelns (Gefahr in Verzug, preventive actions), dass auch der von Kiew ausgehende Eindruck (z.B. die Föderalisierungsmängel, das geplante Sprachengesetz, die Regierungsbeteiligung einer als „rechtsextrem“ einstufbaren Partei) ausreichen könnte: entscheiden sollten das jedenfalls eher der International Court of Justice, und nicht die EUSA, die selbst Konfliktpartei sind. Auch der Kosovokrieg wurde mit Präventivargumenten begründet (es gehe darum, die Vertreibung der Kosovo-Albaner durch die serbische Armee zu verhindern).

Die von EUSA verwendeten Wirtschaftssanktionen und der vielleicht vom EUSA-Verbündeten Saudi-Arabien verursachte Ölpreisverfall könnten als „wirtschaftliche Gewalt“ und somit als „violence“ im Sinne der UN-Charta eingestuft werden, zumindest wenn sie ohne UN-Mandat oder Genehmigung internationaler Gerichte erfolgen. Sanktionen oder Reparationen waren schon oftmals in der Geschichte (Mit-)Ursache oder Vorspiel von Kriegen. Nicht zuletzt widersprechen die Sanktionen dem europäischen Geist, der seit EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) hieß: wirtschaftliche Verflechtung, Freihandel und Wandel durch Handel sichern den Frieden in Europa. Diese Sanktionen („dummes Zeug“ laut Helmut Schmidt) könnten sich als ähnlich kontraproduktiv erweisen wie die gegen die schwarz-blaue Bundesregierung im Jahr 2000 verhängten Sanktionen: sie dienen Putin als Ausrede. Etwaige Fehler in Putins Wirtschaftspolitik kann er so dem Westen in die Schuhe schieben. Leider hat Österreich einen so jungen und unerfahrenen Außenminister, der sich weder an den Kosovokrieg und seine Vorgeschichte noch an die kontraproduktiven Österreichsanktionen des Jahres 2000 erinnert.

Die Ukrainekrise widerspiegelt auch Geopolitik. Von der völkerrechtlichen Unabhängigkeit der Ukraine kann keine Rede sein, so massiv, wie Prozesse von nicht-ukrainischen Großmächten, sowohl westlich als auch östlich, beeinflusst wurden. Putin (ein „ernstzunehmender Stratege“ laut Kissinger) hat trotz all den Kritikpunkten, die man tatsächlich an ihm üben kann, in einem recht: die an Brzezinski erinnernde „Geostrategic Western Primacy“-Entwicklung der EUSA zu einem Welthegemon, der im Alleingang im Kosovo oder im Irak oder Wo-auch-immer wirtschaftlich-politisch-militärisch interveniert und Nachkriegsordnungen diktiert, widerspricht dem in der UNO-Charta festgeschriebenen Gleichgewicht von fünf Großmächten, darunter Russland bzw. Sowjetunion. Gerade in Wien, der Stadt des Wiener Kongresses (unter Einbindung Russlands !) von 1815, sollte die friedensstiftende Wirkung von Großmächtegleichgewichten besonders bedacht werden, bei aller Kritik, die man an Großmächten im Sinne von Leopold Kohr allgemein üben kann.

Der beste Weg, den Toten und Vertriebenen der Ukraine einen Sinn zu geben, dürfte darin bestehen, ein Völkerrecht 2.0 auszuarbeiten, das Integrationsrivalitäten verhindert oder zumindest mäßigt. Moralisch fragwürdig handelt nicht nur der, der sich zum Krieg provozieren lässt, sondern auch der, der zum Krieg provoziert. Auch bestimmungstäterschafts-ähnliche Kriegsprovokation sollte durch globale Gremien sanktionierbar sein.

Dieter Knoflach, ist Publizist und Vielleicht-bald-Gründer einer rein personenlistenbündnisorientierten Kleinstpartei.

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