1848, 1918 – Gute Gründe zur Erinnerung oder Warum sich die Republik Österreich so schwer mit der Erinnerung an ihre Grundlegungen tut

Michael Wimmer privat

Das Jahr 2018 rückt näher. Und damit die hundertste Wiederkehr der Ausrufung der Republik Österreich nach dem gewaltsamen Zusammenbruch der Habsburger-Monarchie. Meine Recherchen deuten nicht drauf hin, dass sich der Staat Österreich und seine BürgerInnen intensiv auf dieses Jubiläum vorbereiten. Selbst das vom vormaligen Kulturminister Josef Ostermayer ins Leben gerufene Museumsprojekt in Gestalt eines „Hauses der Geschichte“ verschwand nach seinem Abgang weitgehend aus der öffentlichen Diskussion. Sein Nachfolger Thomas Drozda startete im Herbst 2016 mit einem wesentlich geringerem Entwicklungsbudget, versprach ungeachtet dessen die zeitgerechte Eröffnung eines reduzierten Provisoriums in der Wiener Hofburg und liebäugelte mit einem Neubau zu einem späteren Zeitpunkt. Einzelne Bundesländer planen eigene, vor allem Museums- und Ausstellungsaktivitäten, die PH Burgenland bietet zusammen mit „eEducation Austria“ eine Mitmach-Aktion (http://www.1918-2018.at/) an und die Stadt Wien hat zusammen mit der Akademie der Wissenschaft einen thematischen Call in der Höhe von insgesamt Euro 600.000.-- für Forschungsprojekte ausgeschrieben.

Republik und Mozart – beides probiert, kein Vergleich

Österreich ist heute eine stabile Demokratie. Die aktuellen politischen Entwicklungen aber machen deutlich, wie rasch republikanische Errungenschaften zur Disposition stehen können, wenn sie nicht mit immer neuem Leben erfüllt werden. Vielleicht liegen die Gründe für das bescheidene Interesse, die Gründung der Republik gebührend zu feiern ja ausschließlich im Beginn des alle Kräfte bindenden vorgezogenen Nationalratswahlkampfes. Wenn ich aber diese Form der Zurückhaltung mit einem anderen Wahljahr vergleiche, als 2006 in einer konzertierten Aktion der Wiederkehr des 250sten Wiederkehr des Geburtstages Wolfgang A. Mozarts gedacht wurde (wofür in der Person Peter Marboe sogar ein eigener Intendant bestellt wurde) dann überkommen mich freilich Zweifel an dieser These.

Vielleicht liegen die Gründe historisch noch weiter zurück, wenn ein anderes entscheidendes Datum für die Ausgestaltung des österreichischen politischen Systems erst gar nicht als solches wahrgenommen wird.

Das Scheitern der Bürgerlichen Revolution 1848 als totzuschweigender Betriebsunfall

Die Rede ist von der Bürgerlichen Revolution 1848, besser von ihrem Scheitern. Auch hier steht ein, wenn auch nicht ganz so rundes Jubiläum an, ohne dass sich weit Stimmen erheben würden, die dieses entsprechend seiner Bedeutung gewürdigt sehen wollen. Nicht unzufällig spricht der Politik- und Rechtswissenschafter Manfried Welan von einer „vergessenen Revolution“, über die sich in Österreich fast schon ein Tabu gelegen zu haben scheint, die jede breitere öffentliche Diskussion erst gar nicht aufkommen lässt.

Und so werden uns vom ORF opulente Produktionen zu historischen Figuren wie der Hotelchefin aufgetischt, während die führenden Figuren der 1948er Revolution wie Kossuth, Becher oder Kudlich keinerlei filmische Erwähnung finden.

Beim Versuch, mich in das Thema einzulesen bin ich auf eine Schrift des österreichischen Kulturpolitikers und Kurzeitkulturministers in der ersten Regierung nach 1945 Ernst Fischer gestoßen, der just hundert Jahre nach der Revolution 1948 das Buch „Österreich 1848“ veröffentlicht hat (Auch er ein gewaltsam Vergessener, der uns mit Schriften wie „Die Notwendigkeit der Kunst“ bis heute viel zu sagen hätte). Fischer begnügt sich in seinem Versuch der historischen Aufarbeitung nicht mit einer Verlaufsgeschichte der Ereignisse vom März bis Oktober 1848 sondern charakterisiert in einer scharfen soziologische Analyse die unterschiedlichen Akteursgruppen, die damals die Auseinandersetzungen bestimmt haben. Mit ihr gelangt er auf der Grundlage seiner marxistischen Weltanschauung zu einer nachvollziehbaren Darstellung der damals herrschenden gesellschaftlichen Widersprüche, die nach Jahren der politischen Stagnation im Staate Metternichs eine gewaltsame Lösung überfällig gemacht haben.

Der Nationalismus aus dem Geist des Kapitalismus

Den zweiten Teil des Buches widmet er der Nationalen Frage. Immerhin sah er in dieser Revolution das Ineinanderwirken mehrerer Umstände. Da war zum einen der Aufstand des in Fronknechtschaft gehaltenen Volkes gegen den Feudaladel, da waren die verheerenden Arbeitsbedingungen eines aufkommenden Industrieproletariats und da waren die Vertreter eines neu aufkommenden Nationalismen, die gegen die Vorherrschaft einer, den Einheitsstaat repräsentierenden deutschsprachigen Bourgeoisie wandten. Als tieferen Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen identifizierte Fischer die Dynamik eines aufsteigenden Kapitalismus, die sich mit den Traditionen feudaler Herrschaft immer weniger vertrug. Als solcher provozierte er die Entwicklung einer Vielzahl neuer junger Bourgeoisien, die eine Chance darin sahen, sich im gegenseitigen Konkurrenzkampf als nationale Eliten gegen den zentralen Herrschaftsanspruch der Habsburger zu positionieren.

Dass die herrschende Klasse willens war, den Fehdehandschuh aufzugreifen, beweist ein Zitat von Kaiser Franz, der mit seinem Kanzler Metternich keinerlei Interesse an Vergemeinschaftung ethnischer Besonderheiten in seinem Reich hatte: „Meine Völker sind eines dem anderen fremd – umso besser. Ich schicke Ungarn nach Italien und Italiener nach Ungarn. Aus ihrer Antipathie entsteht die Ordnung und aus ihrem wechselseitigen Hass der Friede“ (Diese Aussage ist mehr als ein Indiz, dass Versuche der systematischen Verhetzung der Völker gegeneinander durch eine gemeinsame Herrschaft keine neues Phänomen darstellen.)

Insgesamt stellt Fischer die Revolution von 1848 als ein vielfältiges Ineinandergreifen von Klassenkampf und nationalem Kampf dar. Die mehr als ungleichen Kräfteverhältnisse führten zur umfassenden Niederschlagung der Revolution durch die kaiserlichen Armeen. Und sie führten zum Oktroi einer Verfassung 1949, um damit – wie der junge Kaiser Franz Joseph verkündete – „die Revolution zu schließen und einer falsch verstandenen Freiheit ein Ende zu machen.“

Die Idee der Volkssouveränität wurde 1848 in Kremsier erdacht, ihre Umsetzung aber verweigert

In der kurzen Phase der Bedrängnis durch die Aufständischen in Wien wurde der Reichstag nach Kremsier in Mähren verlegt. Dort wurde ein Verfassungsentwurf erarbeitet, der erstmals von der Idee der Volksouveränität ausgeht. Zugleich sind darin wesentliche republikanische Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus und Föderalismus garantiert, die bis heute die Normen staatlichen Handels abgeben. Vor allem im Versuch einer Lösung der Nationalitätenfrage verfolgt der Kremsierer Entwurf erstmals die Idee einer Vielvölkergemeinschaft, die es gelten würde, in einem prekären Verhältnis von Vielfalt und Einheit in Balance zu halten. Als solche können die damaligen Überlegungen als eine Blaupause für die geltende EU-Verfassung gelten, deren Befürworter sich immer wieder auf diesbezügliche Konzepte von 1848 beziehen (Zuletzt hat sich der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder in einem Beitrag für das Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) mit dem Titel „Integration, Counter-Integration, Disintegration - How did the Habsburg Monarchy deal with the Problem of Nationalism?“ (http://www.iwm.at/files/IWMpost_111.pdf?9b19b6) darauf bezogen).

Dieser, für die damalige Zeit sehr fortschrittliche Verfassungs-Entwurf wurde nicht umgesetzt; entsprechend blieb nach 1848 sowohl die soziale als auch die nationale Frage ungelöst. Franz Grillparzer sollte in prophetischer Weise Recht behalten, wenn er bereits 1830 angesichts der umfassenden wirtschaftlichen Veränderungen meinte, dass sich „die ganze Welt …durch den neuen Umschwung erkräftigen“ würde, „nur Österreich wird daran zerfallen“. Dieser Zerfall erfolgte spätestens 1918 und ermöglichte in der Folge die Übernahme von politischen Vorstellungen im nunmehrigen Kleinstaat Österreich, die bereits 1848 vorgedacht und sogar für kurze Zeit in der Realität umgesetzt worden waren.

„Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ von Otto Bauer – eine Leseempfehlung

Auffallend erscheint mir, dass noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts mannigfache Bezüge zu den Konsequenzen aus der Bürgerlichen Revolution hergestellt wurden und gerade die nationale Frage namhafte politische Theoretiker beschäftigt hat. Unter ihnen der Führer der Sozialdemokratischen Partei Otto Bauer, der 1907 seine umfassende Schrift zur nach wie vor ungelösten „Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/bauer/1907/nationalitaet/) veröffentlicht hat. Darin schlug er sich vor allem mit den Konstruktionsversuchen unterschiedlicher „Nationalcharaktere“ herum, die er im wachsenden Widerspruch zu den transnationalen Interessenslagen der Arbeiterklasse sah (Das alles kommt einem mehr als bekannt vor; mit dem Unterschied, dass es im öffentlichen Diskurs keine Arbeiterklasse mehr gibt, und wenn doch, sich eine solche nicht mehr unter dem Banner der Sozialdemokratie sondern der Neuen Rechten versammelt). Diese Schrift wurde damals als so einflussreich angesehen, dass sie Stalin, der in der bolschewistischen Partei als Experte für die Nationalitätenfrage galt, bereits 1912 im Auftrag Lenins nach Wien reisen ließ, um sich persönlich mit Bauers Ansichten zu beschäftigen und dazu knapp vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs unter dem Titel „Marxismus und die nationale Frage“ zu publizieren.

Revolutionen sind Schnee von Gestern – Heißt das, dass die Restauration auf allen Linien gesiegt hat?

Vor wenigen Tagen beschäftigte sich das Radio-Kolleg von Ö1 mit der Frage, „Was bringen Revolutionen?“. Aus dem vorher Gesagten sollte es fast schon selbstverständlich sein, dass die Revolution von 1848 dabei keine Rolle gespielt hat. Stattdessen wurde die politische Philosophin Isolde Charim mit der Erkenntnis zitiert, dass die Idee von Revolution heute weitgehend obsolet geworden sei. In ihrer Begründung folgte sie Michel Foucault, demzufolge die Macht der herrschenden Verhältnisse sich heute nicht mehr personalisieren ließe, weil sich diese in alle Poren des gesellschaftlichen Zusammenlebens gedrängt hätte.

Darin ist etwas dran. Und doch kann dieser Befund nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich heute eine – den Verhältnissen von 1848 durchaus vergleichbare – weil in sich widersprüchliche Polarisierung gesellschaftlicher Interessen abzeichnet. Und wir erleben eine neue, schon überwunden geglaubte Brisanz sowohl der sozialen als auch der nationalen Frage, freilich in neuen, oft undurchsichtigen politischen Gewändern. Diesmal sind es die liberalen und kosmopolitischen Eliten/Krisengewinner, die gegen eine weitgehend undefinierte Gemengelage an Renationalisierern, EU-Gegnern, Kommunitaristen, Krisenverlierern, Wohlstandschauvinisten, Demokratiemüden, Illiberalen, Fundamentalisten, Autoritären, Rechtspopulisten, Rechtsradikalen oder Neonazis in Stellung gebracht werden, während eine kleine Gruppe an unvorstellbar reichen, transnational agierenden Entscheidungsträgern weitgehend anonym und an der repräsentativen Politik vorbei die Zukunft des kapitalistischen Weltsystems bestimmt. Viele der, den bestehenden Verhältnissen Überdrüssigen erscheinen heute bereit, in ihrem Frust die Verfassungsgrundlagen, die im Rahmen der Revolution von 1848 mit dem Einsatz von Menschenleben entwickelt und 1918 umgesetzt wurden, für obsolet zu erklären. Und so könnte einem - entgegen Charim - schon einmal der Verdacht kommen, wir befänden uns – wieder einmal – in vorrevolutionären Zeiten.

Was mich in diesem Zusammenhang erschreckt, das ist der Verlust einer politischen Analyse, die um ihre historischen Bezüge weiß. Stattdessen hat sich eine kollektive Amnesie breit gemacht, die meint, einer historischen Selbstvergewisserung nicht zu bedürfen, weil – vermeintlich – heute alles ganz anders ist.

Und doch ist nicht alles anders, vielmehr die Konsequenz aus Vergangenem. Dazu meint Manfred Welan: Weil die Revolution 1848 nicht in die Tradition der demokratischen Republik Österreich eingegangen ist, gibt es in Österreich keinerlei – wie z.B. in Frankreich mit der Französischen Revolution als Dreh- und Angelpunkt jeglicher Politik – Revolutionspatriotismus. Weil es aber keinerlei Revolutionspatriotismus gibt, gibt es auch keinen Verfassungspatriotismus. Die beeindruckende Differenz zwischen Formal – und Realverfassung, die Österreich in besonderer Weise beherrscht, ist davon ein beredter Ausdruck.

Die Besiegten und die Sieger – Der Verlust des Vermächtnisses von 1848 als Ausdruck einer restaurativen Siegergeschichte

In aller Schnelle habe ich folgende Straßennamen vor allem im Gemeindebezirk Penzing in Wien gefunden, die Namen von KämpferInnen der 1848er Revolution tragen: Donhartgasse, Drewitzweg, Erbacherweg, Etschnerweg, Gusterergasse, Herschmannweg, Kiesgasse, Kohlesgasse, Koniczekweg, Köppelweg, Labersteig, Lebingergasse, Öppingerweg, Paraselgasse, Reiningerweg, Sambeckgasse, Schamborgasse, Scherfweg, Schmalerweg, Staargasse, Stauffergasse, Striagasse, Underreingasse, Wawragasse, Wittmannweg oder Zettelweg. Dazu kommen Bezeichnungen wie Märzstrasse oder Achtundvierzieger Platz. Ich will keinerlei Wetten eingehen, wie viele Menschen konkrete Assoziationen mit diesen Namen verbinden, dessen TrägerInnen ihr Leben für die Überwindung feudaler Verhältnisse geopfert haben.

Umgekehrt ist es wahrscheinlich mit dem Namen Radetzky, der als Feldmarschall der kaiserlichen Armee die entscheidenden Siege an der italienischen Flanke errungen hat, um den Habsburgern ihre Herrschaft gegen die Aufrührer der Revolution zu sichern. Auch ihm ist eine innerstädtische Straße gewidmet; dazu ein Denkmal am Praterstern, das sein Abbild direkt in die Novaragasse als Erinnerung an einen seiner großen Siege schauen lässt.

Bei jedem Neujahrskonzert erklingt am Ende des Programms der Radetzky-Marsch. Und das Publikum darf in einem Klima umfassender Restauration dumpf mitklatschen, ohne sich dabei noch einmal bewusst zu werden, in welcher Weise es dabei seine eigenen gesellschaftlichen Grundlagen verrät. Immerhin war es just dieser, mit diesem Ereignis musikalisch affirmierte Feldmarschall Radetzky, der den Emanzipationswillen seiner frühen bürgerlichen VorgängerInnen brutal nieder kartätschen hat lassen und deshalb bis heute als Held verehrt wird.

Nein, wir brauchen uns 1918 nicht groß zu erinnern, und schon gar nicht 1848. Wir brauchen nur mitzuklatschen im Chor eines seiner politischen Bedeutung als Träger einer republikanischen Geisteshaltung verlustig gegangenen Konzeptpublikums, um die Geschichte der Sieger weiter am Klingen zu halten.

Jedenfalls solange es gelingt, die Verlierer draußen zu halten.

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Markus Andel

Markus Andel bewertete diesen Eintrag 07.07.2017 11:22:14

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