Über einen grassierenden Wertewandel im Bereich der Arbeitswelt und was das für die Kulturpolitik bedeuten könnte

Vor ein paar Tagen erschien im Standard ein Kommentar von Karin Bauer, der mich hellhörig gemacht hat. Sie berichtet von einer aktuellen Umfrage des US-Versicherers Breeze, wonach 65% der Amerikaner*innen bereit wären, auf zumindest fünf Prozent ihres Einkommens zu verzichten, wenn sie im Homeoffice bleiben könnten. 15% würden sogar Einbußen bis zu einem Viertel der Entlohnung hinnehmen. Die Hälfte der traditionellen Bürogeher*innen würde den Job an den Nagel hängen wollen, wenn sie keine Möglichkeit zum Arbeiten von zu Hause aus erhalten (vgl. breeze 2021: To remain remote, employees are ready to give up benefits, PTO, & salary).

Der Einwand kam prompt, die Ergebnisse berücksichtigten zu wenig die Besonderheiten des US-amerikanischen Arbeitsmarktes; sie ließen sich nicht so einfach auf die europäischen Verhältnisse übertragen. Und doch spricht eine vom Arbeitsministerium in Auftrag gegebene OGM-Studie eine ganz ähnliche Sprache. Ihr folgend sprechen sich auch hierzulande bereits mehr als zwei Drittel aller arbeitenden Menschen dafür aus, sich ihre Arbeit flexibel zwischen Büro und Homeoffice einteilen zu wollen. Die Bereitschaft, mögliche Auswirkungen auf die Einkommensverhältnisse in Kauf zu nehmen, wurde in Österreich nicht abgefragt.

Ganz offensichtlich ist da ein umfassender Wandel in den Einstellungen zur Arbeitsorganisation im Gang – mit heute noch gar nicht abschätzbaren Auswirkungen auf die Wohnformen, Beziehungsstrukturen, Arbeitsvertragsverhältnisse, Büroinfrastruktur und vieles mehr. Darüber hinaus deuten diese Haltungsänderungen der arbeitenden Bevölkerung auf einen noch weiter gehenden Veränderungsprozess hin, der die bislang sakrosankten Wertvorstellungen der Arbeitswelt in Frage stellt. „Der Job ist nicht mehr das Leben, vor allem nicht der Job im Büro…“,meinte dazu Karin Bauer (Ressortleiterin Karriere für Der Standard) und deutet damit an, dass – verschärft durch die Auswirkungen der Pandemie – auf die Wende von der materiellen zur immateriellen Produktionsweise schon bald ein Wertewandel folgt, der das Oktroi der Arbeitsgesellschaft, jedenfalls wie wir sie kennen, nachhaltig zu unterlaufen beginnt.

Vor allem junge Menschen wollen sich nicht mehr bedingungslos in das Regime der Arbeitsgesellschaft zwängen lassen

Es sind vor allem jüngere Menschen, die sich immer weniger in die Zwänge der herrschenden Produktions- und Konsumtionslogik

hineinpressen lassen

Sie überraschen all diejenigen, die ein Leben lang am Arbeitsmarkt sozialisiert worden sind mit der Forderung nach einer ausgeglicheneren Work-Life-Balance, für die sie auch bereit sind, Einkommensverluste hinzunehmen und auf allfällige Karrierechancen zu verzichten Der ÖGB und zuletzt auch die Parteivorsitzende der SPÖ versuchen, auf die geänderten Erwartungen zu regieren und fordern seit Kurzem die 32 Stunden Woche bei vollem Lohnausgleich. Auch wenn sich Rendi-Wagner massiver Kritik auch aus den eigenen Reihen ausgesetzt sah belegen mittlerweile eine Reihe von nationalen Pilotprojekten den volkswirtschaftlichen Nutzen der vorgeschlagenen Arbeitszeitverkürzungen. Aber auch Teile der Unternehmer*innenschaft zeigen sich aufgeschlossen. So hat eine Wiener Social-Media-Agentur in ihrem Unternehmen die 32 Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich eingeführt. Stolz berichtet der Geschäftsführer von einem erheblichen Leistungsanstieg. Dementgegen versuchen konservative Kräfte mit allen Mitteln, den Status quo aufrechtzuerhalten. Und sei es wie zuletzt mit der Forderung, die Möglichkeit von Zusatzeinkünften für Langzeitarbeitslose zu unterbinden, um sie – um fast jeden Preis – auf den Arbeitsmarkt zu zwingen und seiner Logik zu unterwerfen.

Das große Versprechen, Bildung und Leistung führten zu Sicherheit und Wohlstand wurde gebrochen

Einer der Hauptgründe, warum der Wertewandel im Bereich der Arbeitsgesellschaft gerade bei jungen Menschen besondere Wirkung zeigt, mag darin liegen, dass die Arbeitsgesellschaft in ihrer gegenwärtigen Verfassung drauf und dran ist, das große Versprechung des Aufstiegs durch Bildung und Leistung zu brechen. Immer ausgeprägter die Stimmung einer diffusen Verunsicherung in einer nachwachsenden Generation, die sich scheinbar unbeeinflussbaren Entwicklungen auf den Arbeitsmarkt ausgesetzt fühlt, in dem in erster Linie zufällige Erfolge zählen, dessen Zustandekommen sie mit noch so großen Bildungsanstrengungen immer weniger zu beeinflussen vermögen. Dazu kommt das schleichende Gefühl, dass sich die Wohlhabenden dank politischer Unterstützung vom großen Rest der Gesellschaft abkoppeln und solidarisches Handeln an Bedeutung für die Aufrechterhaltung eines gedeihlichen Gemeinwesens verliert.

Auch unter dem Eindruck der großen gesellschaftlichen Herausforderungen wie Klimawandel und Ressourcenvergeudung entwickeln die jungen Menschen nicht nur eine kritische Distanz zu den herrschenden Produktionsbedingungen, sondern überprüfen auch ihr Konsumverhalten und erproben sich als Teil einer Sharing Economy, oft in kritischer Distanz zur Logik der herrschenden Arbeitsverhältnisse.

Anders arbeiten heißt anders (aus-)bilden – Zur inhaltlichen Neugestaltung von Bildung

Die Universität für angewandte Kunst beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit den tiefgehenden Veränderungen der Arbeitswelt vor allem im Zeichen der umfassenden digitalen Durchdringung aller Lebens- und Arbeitsbereiche. Dazu ist 2019 ein Band, u.a. herausgegeben von Gerald Bast mit dem Titel „The Future of Education and Labor“ herausgekommen. Er enthält eine Reihe von Grundsatzbeiträgen vor allem zu den Arbeitsbedingungen der durch die Digitalisierung geänderten Produktionsverhältnissen.

Einer perspektivisch gerichteten Diskussion entsprechend deuten die vorgebrachten Szenarien auf eine zunehmende Übernahme von nicht nur repetitiver, sondern zunehmend auch komplexerer und doch algorithmisierbarer Arbeitsverläufe durch Maschinen hin. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, laufen auf eine voranschreitende Freisetzung all derjenigen Arbeitskräfte hinaus, deren Tätigkeiten von Maschinen ersetzt werden können. Ihnen droht der Verlust ihrer Stellung am Arbeitsmarkt. Angesichts der zu erwartenden Rationalisierungsmaßnahmen steht bereits die Befürchtung der Entwicklung einer Zwei-Drittel-Gesellschaft im Raum, in der sich höher Qualifizierte um die verbleibenden Arbeitsplätze raufen, während einem immer größeren Teil nicht oder falsch Qualifizierter die dauerhafte Arbeitslosigkeit samt Ausschluss aus dem öffentlichen Bewusstsein droht.

Die durch die Pandemie verursachte Zäsur mit ihren beträchtlichen Anstiegen der Arbeitslosenzahlen (insbesondere von Langzeitarbeitslosen) bzw. derjenigen, die sich zumindest temporär in Kurzarbeit befinden, macht nur zu leicht vergessen, dass die befürchteten Rationalisierungseffekte nicht die vorhergesagten Wirkungen gezeitigt haben. Stattdessen ist in den letzten Jahren neben den Anstiegen der Arbeitslosenzahlen auch die die Anzahl der Beschäftigten kontinuierlich gestiegen. Sie erreichte 2019 ihren bisherigen Höchststand. Freilich erzählt diese Erfolgsgeschichte nichts darüber, dass zugleich die Anzahl der Teilzeitjobs beträchtlich zugenommen hat. Ebenso wie die Zahl derjenigen, die sich als prekär Beschäftigte in einem neuen Dienstleistungssektor verdingen müssen und als neues Proletariat diese vordergründige Erfolgsgeschichte einigermaßen korrigieren.

Als Vertreter*innen einer Bildungseinrichtung plädieren Bast und Co für eine nachhaltige Veränderung der immer noch an die Erfordernisse des Industrialismus geknüpften Bildungsziele. Das Szenario der Autor*innen läuft darauf hinaus, junge Menschen künftig vor allem mit solchen Qualifikationen auszustatten, die nicht von Maschinen übernommen werden können. Und sie darüber hinaus noch einmal mit einem umfassenden Bildungsbegriff vertraut zu machen, der sich nicht auf die antizipierten Erfordernisse eines künftigen Arbeitsmarktes beschränkt, sondern die Studierenden in gleicher Weise mit den Ambiguitäten menschlicher Existenz vertraut macht und sie mit der Fähigkeit, abzuwägen, zu relativieren, zu differenzieren, zu hinterfragen oder Verbindungen herzustellen, ausstattet.

Das Versprechen der Künste auf dem Prüfstand

Es liegt in der Natur einer Kunstuniversität, dass sie dabei der Auseinandersetzung mit künstlerischen Phänomenen eine besondere Bedeutung einräumt. In diesem Anspruch wohnt einerseits die aufklärerische Vorstellung, erst in der Beschäftigung mit Kunst würde der Mensch als ein freies und souveränes Wesen ganz zu sich kommen. Und andererseits das Versprechen, im Umgang mit Kunst würden die kreativen Potentiale der Menschen in besonderer Weise freigesetzt, die für die individuell und kollektiv sinnstiftende Lebensführung abseits digital vermittelter Standardisierung entscheidend sein könnten.

Nicht verhandelt wird dabei die Frage, in welcher Arbeitsform diese kreativen Potentiale künftig realisiert werden können. Immerhin ließe sich schlussfolgern, mit künstlerisch angereicherten Ausbildungsangeboten könnte eine neue Generation an Beschäftigten in den Arbeitsmarkt integriert werden, den am anderen Ende all diejenigen, die den neuen Anforderungen nicht mehr entsprechen, verlassen werden müssen. Die auf umfassende Konkurrenz basierende Logik der Arbeitsgesellschaft bliebe dabei erhalten, der Arbeitsmarkt erwiese sich als flexibel gegenüber einer innovativen Dynamik im Produktions- ebenso wie im Konsumptionsbereich (Diese Strategie wurde etwa unter Tony Blair von New Labour in Großbritannien verfolgt. Er sah im massiven Wandel der Cultural and Creative Industries den entscheidenden Hebel, die britische Wirtschaft zu erneuern und im internationalen Wettbewerb auf Erfolgskurs zu bringen – Eine Strategie übrigens, die mit der Übernahme der Regierungsverantwortung durch die Tories von einem Tag zum anderen beendet wurde. Ähnliche Bestrebungen fanden in der Folge auch Eingang in die Kulturpolitik der Europäischen Union).

Die radikalere Variante bestünde freilich darin, die wachsende Skepsis gegenüber den Wertvorstellungen der Arbeitsgesellschaft zu antizipieren und die Propagierung von Kunst als entscheidenden Innovator mit der Entwicklung von Wertvorstellungen, die über das herrschende Arbeitsregime hinausweisen, zu verknüpfen. Konkret: Den Menschen zumindest partiell aus den entfremdenden Zwängen der Logik der (Lohn-)Arbeit zu befreien und es ihm zu ermöglichen, sich auf das wirklich Wichtige im Leben, damit auf „sinnvolles Tun“ (Ralf Dahrendorf hat dazu bereits 1982 einen Beitrag mit dem Titel: Wenn aus Arbeit sinnvolles Tun wird) zu konzentrieren.

Traditionell erweist sich der Kulturbetrieb eingespannt in ein spezifisches Spannungsverhältnis, zwischen diesen beiden Polen oszillierend. Da ist zum einen eine Kunstproduktion, die sich immer schon in kritischer Distanz zu den – in den Augen ihrer Repräsentant*innen – kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse auf den Arbeitsmärkten zu positionieren versuchte und so keinerlei Interesse zeigte, sich am Arbeitsmarkt zu integrieren. Mehr oder weniger explizit versuchten ihre Vertreter*innen, sich gegen die Logik der herrschenden Marktverhältnisse zu wenden und im Gegensatz dazu einen autonomen Raum des Tätigseins zu eröffnen, in dem der Mensch auf nicht entfremdete Weise zu sich zu kommen vermag. Um ihre Existenzbedingungen aufrechtzuerhalten, wurde der Staat in die Pflicht genommen, der mit Hilfe eines elaborierten Förderwesens die Hervorbringung dieser meritorischen Güter sicherstellen sollte.

Die Logik des Arbeitsmarkts hat auf den Kulturbetrieb voll durchgeschlagen

Zum anderen lässt sich unschwer konstatieren, dass die neoliberal begründete Vermarktwirtschaftlichung aller Arbeits- und Lebensbereiche der letzten dreißig Jahre auch vor dem Kulturbetrieb nicht Halt gemacht hat. Dafür spricht das Überhandnehmen von Wertvorstellungen eines global agierenden Kunstmarktes ebenso wie die Positionierung großer (und zunehmend auch kleiner) Kultureinrichtungen als Marktakteure im internationalen Tourismusgeschehen so wie die kulturpolitische Hoffnungsproduktion im Bereich der Cultural and Creative Industries als künftig entscheidende Wirtschaftssektoren auf dem Weg zur immerwährenden Fortsetzung einer unumkehrbaren Wachstumsideologie. Selbst im ursprünglich als große Alternative propagierten Freien Bereich bildeten sich neue Berufsgruppen der „Kulturarbeiter*innen“, die ihre möglichst rasche Eingliederung in die bestehenden Arbeitsverhältnisse einforderten.

Freie Künstler*innen als Avantgarde eines neuen Unternehmertums

Im Zuge der neoliberalen Offensive mutierte der Status des*der Künstler*in nur zu leicht zur Avantgarde eines neuen Unternehmertums. Als Kreativen wurde ihnen eine besondere Risikofreudigkeit unterstellt, die sie in besonderer Weise prädestinieren würde, mit Unsicherheiten umzugehen und sich als Freischaffende dennoch durchzusetzen. Die Realitäten sprechen freilich eine ganz andere Sprache. Freischaffende Künstler*innen repräsentieren heute wie kein anderer Bereich die Prekarität der Arbeitsverhältnisse. Untersuchungen zur sozialen Lage von freischaffenden Künstler*innen haben zuletzt ergeben, dass ihr jährliches Medianeinkommen aus künstlerischer Tätigkeit 2018 gerade einmal Euro 5.000.—betragen hat. Das aber bedeutet, dass ein Großteil der Betroffenen zumindest auf ein zweites berufliches Standbein angewiesen ist, das es ihm*ihr ermöglicht, den künstlerischen Tätigkeiten nachzugehen. Dazu gehört auch, dass die Folgen der Pandemie für den Kulturbetrieb die ungleichen Realisierungsbedingungen von Künstler*innen einerseits als fix Angestellte in Kulturinstitutionen und andererseits als freiberuflich Tätige zum Ausdruck gebracht hat. Während die einen mit Hilfe etwa von Kurzarbeitsprogrammen weitgehend abgesichert werden konnten, standen die Freien von einem Tag zum anderen vor existentiellen Bedrohungen. Erste Einschätzungen aus Deutschland (für Österreich existieren bislang keine diesbezüglichen Erhebungen) gehen davon aus, dass im bisherigen Verlauf der Pandemie mindestens 300.000 freischaffende Künstler*innen ihre Tätigkeit aufgegeben und nach anderen Beschäftigungsformen vor allem im Dienstleistungssektor umgesehen haben.

Aber auch im institutionellen Bereich poppen immer wieder Arbeitsverhältnisse auf, die die Bezahlung von künstlerisch Tätigen fast schon als einen Gnadenakt ausweisen, jedenfalls den Eindruck verstärken, dass es auf dem Arbeitsmarkt der Kultur besonders ungerecht zugeht. Teile der Kulturpolitik haben dieses Problem zumindest zur Kenntnis genommen und versuchen im Einvernehmen mit den Interessensgemeinschaften Maßnahmen zugunsten von Fair Pay zu entwickeln. Diese laufen darauf hinaus, öffentliche Kunst- und Kulturförderung an die Einhaltung von Mindeststandards bei der Entlohnung zu binden, selbst dann, wenn bei Beibehaltung der bestehenden Größenordnungen der Förderbudgets davon auszugehen ist, dass damit weniger Antragsteller begünstigt werden können.

Die sozialen Folgen lassen sich leicht voraussagen, wenn mit zunehmender Selektivität staatlicher Förderleistungen ein immer größerer Teil der davon negativ betroffenen Künstler*innen entscheiden wird müssen, ob er oder sie sich ihre künstlerischen Engagements leisten können oder nicht und sich damit das Verhältnis von bezahlter zu unbezahlter Tätigkeit verschiebt.

Künstler*in-Sein muss man sich wieder leisten können

Damit aber wird künstlerisches Tun auf eine Tätigkeit jenseits des Arbeitsmarktes verwiesen, freilich ohne dass dafür die gleichberechtigten materiellen Voraussetzungen für alle geschaffen worden wären. Die Auseinandersetzung mit Kunst wird also zu einer Tätigkeit derer, die es sich leisten können.

Vor dem einen oder anderen Lösungsvorschlag soll noch auf einen speziellen Aspekt eines zeitgemäßen Status von Kunst in der Gesellschaft hingewiesen werden. Immerhin wurde der moderne Kulturbetrieb weitgehend im Einvernehmen mit den dominierenden Marktverhältnissen organisiert. Damit stand einer kleinen Gruppe von für ihre Leistungen zu bezahlenden Produzent*innen eine möglichst große Gruppe an Konsument*innen gegenüber, die bereit waren, für die erbrachten Leistungen der Künstler*innen zu zahlen. Kulturpolitische Maßnahmen beschränkten sich in der Regel darauf, diese prekären Märkte im Gleichgewicht zu erhalten, wenn bestimmte künstlerische Leistungen als meritorische Güter für gesellschaftlich sinnvoll und notwendig befunden wurden, selbst wenn diese auf eine nicht ausreichende Anzahl von Käufer*innen stoßen würde.

Kunst als eine Irritation des herrschenden Produktions- und Konsumtionsmodells

Spätestens mit dem Aufkommen künstlerischer Avantgarden, die auf Interaktion zwischen Künstler*innen und dem Publikum setzen, verschieben sich die Wertigkeiten von der Produkthaftigkeit der Kunst in Richtung ihrer Prozesshaftigkeit. Entscheidend wird, was zwischen den Beteiligten passiert, die sich nicht mehr so einfach in aktiv Machende und passiv Erfahrende unter-teilen lässt. Damit aber entstehen neue Konstellationen zwischen Zahlenden und Bezahlenden, zwischen Produzent*innen und Konsument*innen, wenn beide Seiten gleichermaßen am künstlerischen Geschehen beteiligt sind. Der Künstler und Kunsttheoretiker Bazon Brock hat bereits vor vielen Jahren auf das geänderte Rollenverhalten hingewiesen, in dem er die Besucher*innen seiner Performance im Wiener Schauspielhaus für ihre Teilnahme bezahlt hat.

Die zu Beginn angedeuteten Veränderungen der auf die Arbeitswelt bezogenen Wertvorstellungen in breiteren Teilen der Bevölkerung bietet den Anlass, darüber nachzudenken, welchen Part die Kunst dabei einzunehmen vermag. Das betrifft einerseits die Auseinandersetzung mit künstlerischen Phänomenen selbst, der – jedenfalls von ihren Vertreter*innen – nur zu gerne das Versprechen eingeschrieben wird, im Sinn von Dahrendorf „sinnvolles Tun“ anstelle von entfremdeter Arbeit zu setzen. Und andererseits bieten sich die Künstler*innen als Grenzgänger*innen zwischen Teilnahme an einem kulturellen Arbeitsmarkt, der eine wenige hochprivilegiert und alle anderen diskriminiert, und dem Anspruch auf selbstbestimmte, damit oft unbezahlte künstlerische Tätigkeit. Dies könnte sich als Role Model für das erweisen, was auf breitere Teile der Bevölkerung bei der zu erwarteten Weiterentwicklung der Arbeitsmärkte zukommen könnte.

Auch wenn die Arbeitsmarktzahlen heute noch eine andere Sprache sprechen. Vieles deutet darauf hin, dass der gesellschaftlichen Trennung zwischen denen, die (noch) über Arbeit verfügen und denen, die dieses Privileg nicht besitzen (Arbeitslose) eine hohe politische Priorität in Bezug auf den Fortbestand demokratischer Errungenschaften zukommen wird. Vieles spricht dafür, dass wir noch am Anfang einer umfassenden technologischen Entwicklung stehen, die die bestehenden Lebens- und Arbeitsverhältnisse von immer mehr Menschen von Grund auf erschüttern werden. Im Sinne des angesprochenen Wertewandels wird sich ein Teil der Menschen und sei es in der Klasse der neuen Dienstleister*innen den immer rigider werdenden Arbeitsmarktvorgaben unterwerfen. Ein anderer Teil aber wird sich so oder so dauerhaft verabschieden, sei es als dauerhaft in

Arbeitslosigkeit Verharrende oder sei es auf der Suche nach „sinnvollem Tun“, um so nach anderen Lebensentwürfen zu streben und dafür auch beträchtliche materielle Einschränkungen inklusive drohendem sozialem Prestigeverlust in Kauf nehmen.

Künstler*innen haben dabei immerhin das Privileg, diesbezügliche Realverluste durch den Hinweis auf ihren ausgesetzten Status, der ihnen immerhin in den eigenen Reihen gesellschaftliche Anerkennung ermöglicht, kompensieren zu können.

Mögliche kulturpolitische Reaktionen

Im Wissen um die vielfältigen, im Einzelnen nicht mehr überschaubaren Einzelfördermaßnahmen zur Begrenzung der Schäden der Pandemie haben sich zuletzt viele Künstler*innen für die Implementierung eines voraussetzungslosen Grundeinkommens ausgesprochen. Im Wissen der politischen Brisanz einer solchen einseitigen Privilegierung sollte dieses freilich nicht nur für die eigene Berufsgruppe vorgesehen werden, sondern als eine für alle nutzbare Ersatzleistung.

Die Vor- und Nachteile der Einführung einer solchen, die geltende Arbeitsmarktlogik tendenziell unterlaufende Maßnahme sind – verschärft durch die Entwicklungen während der Pandemie – in Bezug auf ihre sozialpolitischen Implikationen eingehend diskutiert worden. Das trifft nicht in gleicher Weise auf die Fragen der möglichen Auswirkungen auf Kunstproduktion, Rezeption und Vermittlung und wäre für sich ein lohnendes Forschungsvorhaben. Tendenziell steht zu befürchten, dass eine solche Maßnahme ohne entsprechende Lenkungsmaßnahmen bislang sehr dominante Beharrungskräfte unterstützt, wenn all diejenigen, die jetzt an zum Teil skandalöser Ungleichbehandlung leiden, allenfalls auch dagegen aufbegehren, jedenfalls fürs Erste befriedet erscheinen und ein „Weiter so“ für einige wenige privilegierte Akteur*innen in greifbare Nähe rückt

Als radikaler hingegen erwiese sich eine Änderung des Profils von künstlerisch Tätigen, die sich nicht mehr darauf beschränken, mehr oder weniger gut verkaufbare Kunst zu schaffen, sondern sich in den unterschiedlichen sozialen Milieus als Kommunikator*innen bzw. als Facilitator gemeinsamer künstlerischer Prozesse weiterzuentwickeln. Die Vorteile liegen einerseits in der Überwindung eines sich zunehmend selbstreferentiellen Ghettos durch konkrete Kooperation mit Akteur*innen anderer Fachbereiche (Umwelt, Bildung, Soziales,…,), um auf diese Weise noch einmal gesellschaftliche Relevanz (und damit verbunden Einkommen) zu erzielen. Und andererseits in der Möglichkeit, Teil einer größeren Öffentlichkeit zu werden, in der uns alle betreffende zentrale Fragen verhandelt werden.

In diesem Zusammenhang passen sehr gut die Überlegungen zu einem New New Deal für die Künste. Nach dem Vorbild der 1935 in den USA gegründeten Bundesbehörde Work Project Administration (WPA) macht zur Zeit der Kurator und Leiter der Londoner Serpentine Gallery den Vorschlag, ein großes Beschäftigungsprogramm für Künstler*innen aufzulegen, um deren ästhetische Expertise zur Lösung der mannigfachen gesellschaftlichen Probleme zu nutzen. Staatliche Kulturpolitiken zeigen freilich bislang wenig Bereitschaft, einem solchen Vorschlag zu folgen. Vielmehr steht zu befürchten, dass die anstehenden Konsolidierungsprogramme auch zu beträchtlichen Kürzungen im Bereich der Kunst- und Kulturförderung führen könnten.

Ungeachtet dessen wird der Mut zur Veränderung auch und gerade von Künstler*innen, wesentlich darüber entscheiden, ob sie mit ihren eigenen widersprüchlichen Erfahrungen einen Beitrag zum aktuellen Wertewandel der Arbeitswelt zu leisten vermögen. Oder ob sie einmal mehr – zum eigenen Schaden – den aktuellen Entwicklungen hinterherhinken werden.

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stefan251

stefan251 bewertete diesen Eintrag 14.09.2021 00:02:40

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