Das Kapital als Gott und das Tabu der Gewalt. Außerirdische Betrachtungen.

Vor Ostern befand ich mich auf einer Bahnreise von meiner Heimatstadt in die Schweiz. In Basel stieg ich in einen Zug nach Gruyere um. Dort wird ein nach dem Städtchen benannter wohlschmeckender Käse hergestellt. Ich reiste allerdings nicht wegen dieser Spezialität dorthin. Mein Ziel war wieder einmal ein in dem Örtchen gelegenes Schloss, das HR Giger bis zu seinem Tode dort bewohnte. Der schweizer Künstler wurde einem breiteren Publikum bekannt als er 1979 für den Alien Film das Monster schuf. Im Schloss befinden sich seine Sammlung von Kunstwerken und die größte Ausstellung seiner eigenen Kunstwerke. Darunter viele plastische Werke und einige zeichnerische Darstellungen. Er nannte seine humanoiden und technischen Mischwesen „Biomechanoide“, lange bevor in der Science Fiction Literatur der Begriff des Cyborg Einzug fand. In seinen Maschinenwesen verschmelzen Horror, Groteske und erotomanische Züge miteinander. Die erotischen Seiten seiner Kunst brachten ihm den Vorwurf der Pornographie in dem sittenstrengen Landstrich ein. Er hatte nicht nur Freunde unter den Bewohnern dieser Gegend, die Unzucht und Teufelswerk in ihr braves Städtchen Einzug finden sahen.

Um solches hier zu finden kommen genau deswegen Besucher in den wie von Spitzweg gemalten Ort; tätowierte Gestalten in Einschlägiger Kluft und dazugehörigem Schmuck lassen sich hier sehen. HR Giger ist ein Name in bestimmten Kreisen.

Seine Verbindung von Eros und Tod und Phantastik steht in der besten Tradition der schwarzen Romantik.

Nach dem Besuch des Museums suchte ich mir einen Platz in dem dazugehörigen Café, das Giger zu Lebzeiten noch selbst gestaltet hatte. Von Haus aus Innenarchitekt, hatte er auch Möbel entworfen.

Von einem Tisch erhoben sich gerade eine bleiche Dame mittleren Alters mit rot geschminkten Lippen, schwarzen Haaren und schwarzer Kleidung und ihr etwas älterer Begleiter, der in auffällig vornehmer Kleidung, wie aus einer vergangenen Epoche mit seinem Hut und einem zierlichen Spazierstock, dem Äußeren nach ein wenig den Eindruck eines Dandy machte.

Ich setzte mich an den freiwerdenden Tisch und wartete darauf meine Bestellung abzugeben. Dabei fiel mir ein Stoß Papiere auf dem Tisch ins Auge, den das Paar offenbar hier vergessen hatte. Mit den Papieren in der Hand erhob ich mich, eilte zum Ausgang und schaute mich vor der Tür nach den beiden um. Sie waren bereits nirgendwo mehr zu entdecken. So kehrte ich wieder zu meinem Tisch zurück, bestellte mir einen Tee und warf einen Blick auf die Papiere, die ich in der Hand hielt. Die Überschrift machte mich neugierig und so begann ich folgendes zu lesen:

Das Kapital als Gott und das Tabu der Gewalt

Jetzt, da es mit der Menschheit womöglich bald zu Ende geht, könnte ein außenstehender Beobachter in einer näheren oder ferneren uns unbekannten Welt fragen wie es dahin kommen konnte. Schade eigentlich, würde unserer Beobachter denken, und ihm kämen die wunderbaren von Menschen ersonnenen Geschichten in den Sinn, die zauberhafte Musik, die großartigen Gemälde und die von menschlichen Künstlern geschaffenen Bauwerke und Skulpturen. Sicher, es handelte sich um eine rohe und barbarische Spezies, unfertig und grausam gegen sich selbst und die anderen Lebensformen des Planeten Erde. Aber die Menschheit hätte zweifellos das Potential für eine glänzende Zukunft. Allerdings hatte sie es bislang noch nicht einmal geschafft die Einheit ihrer Gattung herzustellen. Sie erfüllte damit noch nicht einmal die Mindestvoraussetzung, um in den Verbund der galaktischen Zivilisationen aufgenommen zu werden. Und dies schon gar nicht angesichts der Gemetzel, die sie regelmäßig an ihrer eigenen Spezies anzurichten pflegte.

Irgendetwas war schief gelaufen. Unser Beobachter bittet die für den Planeten Erde zuständige Abteilung zur Erforschung primitiver Zivilisationen um einen Bericht, der Ihm von dem Spezialisten für Religion, Philosophie und Metaphysik mit folgenden Worten überreicht wird:

Die Kollegen von Wissenschaft und Technik haben sich für nicht zuständig erklärt. Bei dem Niedergang der Menschheit handelt es sich um ein soziales Problem, das religiöse und metaphysische Wurzeln hat, aber lies selbst was ich darüber herausgefunden habe.

Der Beobachter vertieft sich in den Bericht, der mit diesen Worten beginnt:

Wie alle Götter denen die Menschen dienen ist auch das Kapital ein von Ihnen selbst geschaffener Gott. Das Kapital ist ein doppelköpfiger Kriegsgott, von denen der eine Kopf auf den Namen „ökonomischer Zwang“ und der andere auf den Namen „politische Gewalt“ hört. Diesem gefräßigen und unersättlichen Gott opfert die Menschheit sich selbst und allen lebendigen und stofflichen Reichtum der Erde. Die Menschheit ist an einem Punkt angelangt, wo sie von dem selbst geschaffenen Ungeheuer verschlungen zu werden droht. Sie führt Krieg gegen sich selbst in einem weltumspannenden Weltbürgerkrieg. Ihr Untergang wird ein Suizid sein.

Die Kriege, die die Menschheit gegen sich selbst führt sind älter als das Kapital. Durch das Kapital hindurch hat die Menschheit sich allerdings erst die wissenschaftlichen und technischen Fähigkeiten geschaffen ihren Untergang herbeizuführen. Gleichzeitig besitzt sie in den durch das Kapital geschaffenen Möglichkeiten eine Lösung für jedes ihrer Probleme, vorausgesetzt sie handelt rechtzeitig. Danach sieht es zurzeit nicht aus. Der Grund liegt darin, dass sie nicht in der Lage ist sich ihres selbstgeschaffenen monströsen Kriegsgottes zu entledigen, um sich seine Kräfte um ihres Überlebens Willen zu Nutze zu machen.

Um es einmal im Jargon ihrer Politikerkaste zu sagen: „Die Abschaffung des Gottes Kapital ist alternativlos“. Nur dann kann es gelingen die Einheit der Gattung herzustellen und nur so kann der Weltbürgerkrieg beendet werden. Die Frage stellt sich, weshalb es der Menschheit angesichts der furchtbaren Kriege und der Umweltzerstörungen in ihrer jüngeren Geschichte nicht gelungen ist sich dieser seltsamen Religion, die ihr Bewusstsein vernebelt, zu entledigen und ihren Gott Kapital zu stürzen. Die Antwort dürfte darin liegen, dass es sich um ein unbegriffenes Herrschaftsverhältnis handelt. Das Kapital ist ein Gewaltverhältnis und die der Kapitalherrschaft inbegriffene Gewalt wird von den ihr unterworfenen Menschen vollständig tabuisiert und wird vom ihnen nicht als die Herrschaft und Gewalt abstrakter gesellschaftlicher Formbestimmungen begriffen, weil es sich bei der Kapitalherrschaft um eine unpersönliche Herrschaft handelt. Eine die kein lebendiges Subjekt kennt, im Unterschied zu allen anderen Herrschaftsformen, die der Kapitalherrschaft vorausgingen, wie das römische oder chinesische Kaiserreich oder die Herrschaft der Pharaonen oder des Dschingis Khan. Mit anderen Worten handelt es sich bei der Kapitalherrschaft um eine vermittelte Herrschaft. Sie wird nach wie vor ausgeübt von Menschen mit Leib und Blut. Sie können dies aber nur tun als Agenten einer abstrakten Vermittlung; als Diener der Herrschaft abstrakter Formen, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit eben als Geld und Tauschwert und ihrer Bestimmung als Kapital erscheinen.

Das Kapital kann aber nicht allein in seiner ökonomischen Form herrschen, es bedarf zu seiner Durchsetzung eines Souveräns, das heißt des Staates als seiner politischen Form. Das wird schon daraus ersichtlich, dass es sich beim Kauf und Verkauf von Waren einschließlich der Ware Arbeitskraft (Lohnarbeitsverhältnissen), um Verträge handelt, das heißt um ein Rechtsverhältnis, dass niemand anderes als der Staat in Kraft setzen kann und durch sein Gewaltmonopol auch durchsetzt. Er muss die seiner Gewalt unterworfenen Staatsbürger als rechtlich gleichgestellte Rechtssubjekte setzen. Sonst wäre keine Warenzirkulation möglich. Dies macht überhaupt erst die Idee einer für alle Menschen geltenden Menschenrechte denkbar (in einer Sklavenhaltergesellschaft kann die Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen gar nicht aufkommen). Andererseits ist der Staat auf eine gelingende Kapitalakkumulation angewiesen. In dem Prozess der Kapitalzirkulation ist Wachstum zwingend eingeschlossen. Jeder Banker und Börsianer weiß, dass es für den Kapitalanleger nur um die Kapitalrendite zu tun ist. Wozu sollte sonst jemand sein Geld riskieren, wenn er sich nicht einen Profit davon versprechen würde? Das Eigentümliche dieser Kapitalakkumulation besteht darin, dass sie reiner Selbstzweck ist: Kapitalwachstum um des Kapitalwachstums willen. Wesen und Zweck einer Sache fallen hier in eins. Dass in dieser Angelegenheit auch etwas produziert werden muss oder eine Dienstleistung erbracht wird, ist ein lästiger, die Akkumulation störender Begleitumstand. Hier wird sichtbar, dass das Kapital als reines Formprinzip wirkt, das gleichgültig gegen jeden Inhalt ist. Brot wird in der kapitalistischen Ökonomie nicht gebacken, weil Menschen hungern, sondern nur für eine kaufkräftige Nachfrage. Genau das ist auch die Antwort auf die Frage weshalb Menschen hungern, obwohl es genug Lebensmittel gäbe. Die kaufkraftfähige Nachfrage für ein Produkt ist eine endliche Größe; dagegen ist aber die Akkumulation abstrakten Reichtums(Kapitalvermehrung) ihrer Intention und Logik nach unendlich. Jeglicher Konsum findet seine Schranke in der Endlichkeit der Kaufkraft und der Endlichkeit der Lebenszeit und Anzahl der Konsumenten. Dieses Faktum ist einer der Selbstwidersprüche des Kapitals. Aus diesem Umstand heraus wird in der heutigen Epoche so unendlich viel sinnloser Müll fabriziert, der mit aufwendigsten Werbekampagnen an „den Mann“ und „die Frau“ gebracht werden soll, während es gleichzeitig Milliarden von Menschen an den lebensnotwendigsten Dingen fehlt, um nur ihre elementarsten leiblichen Bedürfnisse zu decken. Aus genau diesem Widerspruch erscheint der irrationale Reichtum der auf Kapitalakkumulation gründenden Gesellschaft als überflüssiges Kapital auf den Finanzmärkten, auf der verzweifelten Suche nach Renditemöglichkeiten. Die sogenannte „Aufblähung“ der Finanzmärkte folgt aus der zwingenden Logik der kapitalistischen Produktionsweise, die versucht Renditemöglichkeiten aus dem Nichts zu schaffen.

Die Rede von einem sogenannten „Finanzkapital“ als dem Verursacher der Krisen ( im Gegensatz zu einem „guten“ sogenannten produktiven Kapital) ist gefährlicher ideologischer Unfug, der darauf zielt Schuldige für die desaströse und unverstandene Herrschaft des Kapitals zu finden, wofür dann „Heuschrecken“, Banker, Soros und natürlich Juden als die bevorzugten Opfer herhalten müssen. Dahinter steckt die Sehnsucht des militanten Konformisten (Wutbürger, Rassisten, Antisemiten, Faschisten) nach der „guten Herrschaft“ mit der er sich um jeden Preis (Mord und Totschlag) identifizieren möchte. Deshalb müssen von der Herrschaft des Kapitals dessen katastrophale Auswirkungen abgespalten und personifiziert werden, indem die Schuldigen für die zyklischen Krisen im Finanzkapital und auf den Finanzmärkten ausgemacht werden. Da die Produktionssphäre und die Zirkulationssphäre nur Momente der Zirkulation des Kapitals sind, die zusammen die Totalität des Kapitals bilden, ist das ideologischer Unsinn. Daraus erfolgt das Ansinnen lächerlicher Experten, durch Regulierungen und Bankgesetze die Krisen vermeiden zu können. Der Wunsch nach der guten Herrschaft eben.

Bedauerlicherweise ist der Planet aber endlich. Die Menschheit sieht bereits das Ende der Fahnenstange. Das Kapital erneuert sich ständig in einem zirkulären Prozess und es wächst dabei um den erzielten Mehrwert. Diesem destruktiven Prozess opfert die Menschheit sämtliche Ressourcen des Planeten: Boden, Wasser, Luft, Bodenschätze, Fauna, Flora und schließlich sich selbst. Die Zirkulation und das Wachstum sind dem Kapital wesentlich. Wissenschaftlern sind solche Zusammenhänge anscheinend unverständlich. Wie sonst konnte in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der menschlichen Zeitrechnung der Club of Rome in einem Warnruf einer Gruppe von Wissenschaftlern von den „Grenzen des Wachstums“ fabulieren, statt die Abschaffung des Kapitals zu fordern, was die notwendige Konsequenz aus der Forderung nach dem Ende des Wachstums wäre?

Wenn dieser Prozess in einer großen Wirtschaftskrise zum Erliegen kommt, dann brechen dem Staat die Einnahmen weg. Er wird handlungsunfähig, weil er seine Beamten, Polizisten, Soldaten usw. nicht mehr bezahlen kann. Ein Szenario wie 1929/30 in der Weltwirtschaftskrise und wie es in der Krise 2007/8 drohte und sich immer wiederholen kann. Man konnte sehen welche Panik unter Wirtschaftsführern und Politikern an dem Tag ausbrach, als die Lehmann Brothers Bank Pleite ging. In der Krise, in der der Staat die Banken und damit die kapitalistische Ökonomie rettete zeigte sich: Der Staat ist immer der Staat des Kapitals.

Die Menschheit kann sich keine Kriege mehr leisten und sie kann sich das Kapital nicht mehr leisten.

Wenn hier von einem Tabu der Gewalt gesprochen wird, ist damit nicht die Gewalt als solche angesprochen. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrer medialen Darstellung ist die Gewalt allgegenwärtig. Die Gewalt steht im Verbund mit der Sexualität im Zentrum der menschlichen Triebökonomie. Die Einheit von Sexualität und Gewalt aber ist ein Tabu. Denn immer ist in einer sexuellen Handlung die Gewalt, in welch sublimierter Form auch immer, im Spiel, und jede Gewalt speist sich aus libidinösen Antrieben.

Gemeint ist hier aber das Tabu der in der Kapitalherrschaft inbegriffenen Gewalt, ohne die diese auf Herrschaft und Ausbeutung gründende Gesellschaftsordnung nicht bestehen könnte.

Kapital und Staat sind ökonomische und politische Formen der Gewalt einer auf Herrschaft und Ausbeutung beruhenden Gesellschaft.

Sie sind diese Gewalt sowohl im Verhältnis nach innen wie nach außen. Wenn Kapital und Staat bisher immer als Einheiten angesprochen wurden, so geschah es um den Zusammenhang dieser beiden Sphären vereinfacht darzustellen. Tatsächlich können Kapital und Staat nur als Vielfalt existieren. Allein in dieser Vielfalt besteht ihre Existenzmöglichkeit, die sich als die Existenz ihrer Gewalt verwirklicht.

Das Kapital existiert als viele Einzelkapitalien, wie der Staat als die Staatenvielfalt auf der Erde existiert. All diese Einzelkapitalien sind auf dem Markt gegeneinander gestellt, so wie alle Staaten gegeneinander gestellt sind. Was es aus diesem Grund nicht gibt, ist so etwas wie ein „Zentralkomitee“ und „Verschwörung“ der „Herrschenden“, die sich alle Übel der Welt ausdenken, was natürlich nicht heißt, dass man den Leuten, die die Macht in Ökonomie und Politik ausüben, diese Macht nicht wegnehmen muss, wenn der Zustand auf der Erde ein anderer und besserer werden soll. Es gibt mit den Lenkern der großen Konzerne und der Staatsmacht nichts zu verhandeln.

Die Vielfalt der Kapitalien ist eine der Bedingungen der Marktökonomie; wozu sonst gäbe es ein Kartellamt, und die in historischen Fällen stattgefundene Zerschlagung von monopolistischen Kartellen durch den Staat. Hier liegt die große Schwierigkeit staatskapitalistisch verfasster Ökonomien („realer Sozialismus“), die marktwirtschaftlich organisierten Ökonomien hoffnungslos unterlegen sind. (Aus Einsicht in diese Mechanismen hat die Führung der „kommunistischen“ Partei Chinas schließlich mit „Erfolg“ ihre wirtschaftlichen Reformen durchgeführt). Auf dem Markt agieren die Einzelkapitalien wie auf einem militärischen Schlachtfeld und schrecken auch vor keiner kriminellen Handlung zurück (Abgasmanipulationen, Korruption, Lobbyismus etc.). Der Wirtschaftsteil der Tageszeitungen liest sich über weite Strecken regelmäßig wie ein militärischer Lagebericht. Die Vorstandsvorsitzenden amerikanischer Unternehmen werden deshalb verräterischer Weise gleich mit einem militärischen Rang angesprochen: „Chief Executive Officer“.

Der Zugang zum Markt ist die Bedingung des Erfolges eines Unternehmens. Hier liegt die Macht von Internetunternehmen wie Google. Es handelt sich um „Torwächter des Marktes“ im digitalen Zeitalter: Die Rangfolge des Suchergebnisses ist mitendscheidend welches Unternehmen noch eine Chance auf dem Markt hat. Sie müssen dort für ihren Auftritt zahlen, wenn sie einen Zugang zum Markt haben wollen. Der Zugang zum Markt wurde üblicherweise von Beginn an der kapitalistischen Ökonomie mit Kanonenbooten geregelt. Der Militärhistoriker Geoffrey Parker schreibt in seinem Buch „Die militärische Revolution“ (Campus, 1988, Seite 162), über die holländische Ostindienkompanie im 17. Jahrhundert: „Die meisten Holländer im Osten (Asien) waren davon überzeugt, dass ohne Macht kein Profit zu erzielen und ohne Krieg kein Handel möglich sei. In dem knappen (und oft zitierten) Brief des Generalgouverneurs Jan Pieterszoon Coen an seine Direktoren aus dem Jahre 1614 heißt es“:

"Die Herren müssten eigentlich aus Erfahrung wissen, dass der Handel in Asien unter dem Schutz und mit Hilfe Ihrer eigenen Waffen betrieben und aufrechterhalten werden sollte und dass jene Waffen mit den Gewinnen aus dem Handel beschafft werden müssen. Also kann ohne Krieg kein Handel getrieben und ohne Handel kein Krieg geführt werden."

Kürzer und genauer und allgemeingültiger lässt sich die Logik kapitalistischer Ökonomie und Politik nicht zusammenfassen.

Mit den Worten von Jan Pieterszoon Coen im Sinn, ist es weiter keine Schwierigkeit auch in den gegenwärtigen und zukünftigen Handelskriegen und militärisch geführten Konflikten klar zu sehen: Worum sollte es sonst gehen, wenn nicht um die Kontrolle und Herrschaft über die Märkte?

Im Opiumkrieg erzwangen sich die Engländer 1839 den Zugang zum chinesischen Markt. Hier betätigte sich die britische Ostindienkompanie im großen Stil als Drogenhändler, und brachte den britischen Staat dazu „die Freiheit des Handels“ (mit Opium) mit Waffengewalt herzustellen, was schließlich zum Zusammenbruch des chinesische Kaiserreich führte.

Erinnert sei hier daran wie der CIA in den 1980-Jahren mit Geld aus Drogengeschäften eine Guerillatruppe in Afghanistan namens Taliban im Krieg gegen die Sowjetunion finanzierte, die Jahre später dann die Flugzeuge in das World Trade Center steuerte. Ein außer Kontrolle geratenes selbst herangezogenes Monster.

Und haben die USA nicht selbst zu dem islamistischen Regime im Iran beigetragen, als sie in den 1950-Jahren ebenfalls mittels des CIA eine demokratische Regierung im Iran stürzten, um dem Schah an die Macht zu helfen?

Unter diesem Blickwinkel werden die ganzen kriegerischen Auseinandersetzungen des gegenwärtigen und des letzten Jahrhunderts verständlich. Der ökonomische Aufstieg Chinas, seine Pläne der neuen Seidenstraße, sind Kämpfe um den Zugang zum Weltmarkt. Und dieser Aufstieg kann nur mit einhergehender militärischer Stärke gelingen. Die USA, der Welthegemon seit 1918, werden alles tun, um es zu bleiben, und jeden Krieg dafür führen. Niemals geht es dem Westen um Demokratie und Menschenrechte. Welche Staaten als Schurkenstaaten oder als Verbündete behandelt werden, hängt ganz davon ab, ob sie kooperieren oder nicht. Siehe Saudi-Arabien und der Iran. Was zählt ist die Frage, ob es „unsere“ Monster sind oder „ihre“ Das ganze ideologische Gedöns kann man getrost in die Tonne treten. Auch die sogenannte Blockkonfrontation im kalten Krieg, als sich der sogenannte freie Westen und das sogenannte kommunistische Reich des Bösens in Gestalt der Sowjetunion bekämpften, entpuppt sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als das was es wirklich war: Der Kampf des Welthegemons USA und seiner Verbündeten um den Zugang zu den Rohstoffmärkten Russlands und die globale Hegemonie auf den Weltmärkten.

Man muss es eigentlich nicht ausdrücklich hinzufügen, dass die in der Nato mit den USA verbündeten europäischen Staaten, allen voran der deutsche Staat, nur soweit „Verbündete“ sind, wie die gemeinsamen Interessen reichen. Wie diese Interessen definiert werden ist Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen. Im Kampf um die Märkte sind die USA und Deutscheuropa Gegner, wie es seit der Regierung Trump deutlich sichtbar wurde.

Die Instanz, die Recht setzt, ist der Souverän, das heißt der Staat, der durch sein Gewaltmonopol innerhalb seiner Grenzen einen Rechtsraum schafft. Der Staat schafft die rechtlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen unter denen ein Kapital überhaupt existieren kann. Es kann nur als ein nationales Kapital existieren, wie international es auch immer aufgestellt sein mag. Der Staat ist der politische Kopf des Monsters Kapitals neben seinem ökonomischen. Aus eben diesem Grund wird der Staat im Frontispiz des Hauptwerkes von Thomas Hobbes über den Staat „Der Leviathan“ zeichnerisch als menschenfressendes Monster dargestellt. Der Souverän in Form des Staates entscheidet über den Ausnahmezustand. Er steht damit über dem Recht, was sich im Bürgerkrieg zeigt, wenn die Existenz des Staates und das Kapital bedroht sind. Aus der Befriedung innerhalb seiner Grenzen und dem Schutz vor feindlichen Einfällen gewinnt der Staat gegenüber seinen Staatsbürgern seine Existenzberechtigung.

Genau diesen „Landfrieden“ gibt es zwischen den Staaten nicht. Das internationale Recht ist eine Chimäre, über das sich jeder Staat hinwegsetzt, sobald es seine Interessen gebieten, wie es gerade die Sanktionen der USA gegen den internationalen Gerichtshof zeigen. Denn über den Staaten gibt es keine Instanz, die Recht setzen kann. Zwischen den Staaten herrscht potentieller oder wirklicher Krieg. Verträge und Bündnisse werden nur so lange eingehalten, wie es den Staaten zum Vorteil gereicht.

Das Kapital braucht für seine Existenz den Souverän in Gestalt des Staates, nicht nur als Rechtsraum innerhalb seiner Grenzen, es bedarf des Staates genauso zwingend außerhalb der Grenzen „seines“ Staates. Der Markt in dem das Kapital tätig ist, war in der Geschichte der Entfaltung der kapitalistischen Ökonomie immer der Weltmarkt. Die von den Globalisierungskritikern angeprangerte „Globalisierung“ ist nichts anderes als eine Bezeichnung für den Weltmarkt, der existiert seit es das Kapital gibt. Und genau so lange gibt es auch die Gewalt, die nötig ist, damit ein Kapital auf „fremden Märkten“ genauso agieren kann wie auf seinem „Heimatmarkt“.

Aus diesen Gründen findet der Staat seine Existenzmöglichkeit und Existenzberechtigung allein in der Konkurrenz zu allen anderen Staaten, gegen die er sich behaupten muss. Seine Existenzbedingung ist die der Gewalt, so wie die Existenzbedingung des Kapitals die Gewalt ist. Ein Weltstaat ist aus diesen Gründen eine reine Fantasie.

Um ein gesellschaftliches Tabu handelt es sich die Gewalt als das Unwesen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung zu benennen und als die Ursache eines seit Beginn der Kapitalherrschaft andauernden Weltbürgerkrieges, die mit fortschreitender technologischer Entwicklung im vergangenen Jahrhundert zu zwei Weltkriegen und dem Menschheitsverbrechen der Shoa und weiteren Völkermorden führte.

Hier endet der Bericht, den der Beobachter einer uns fremden Welt von seinem Kollegen erhalten hatte. Er macht sich auf den Weg in die Abteilung zur Erforschung der Religion, Philosophie und Metaphysik fremder Zivilisationen. Er wendet sich an ihn mit folgenden Worten: „Der Bericht liest sich recht düster. Besteht denn irgendeine Aussicht für ein Überleben der Menschheit?“ Der Kollege antwortet: „Wir wissen es nicht. Wenn die Entwicklungen so verlaufen wie bis zu diesem Zeitpunkt, dann bin ich da nicht sehr zuversichtlich. Ein Überleben der Menschheit dürfte sehr knapp werden. Ihre Wissenschaftler haben inzwischen einen hohen technologischen Stand erreicht. Sie kennen die Probleme und arbeiten durchaus erfolgreich an möglichen Lösungen. Das Problem dabei ist, es hängt nicht allein an den wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten. Wie du aus unserem Bericht ja erfahren hast handelt es sich um ein grundlegendes Problem ihrer gesellschaftlichen Organisation. Die Wissenschaftler haben wenig Verständnis für die ökonomischen, politischen und sozialen Zusammenhänge. Gerade der Erfolg auf ihrem Gebiet macht sie blind für die gesellschaftlichen Zustände. Wissenschaft hat tatsächlich keinen Begriff des Menschen in seiner Gesellschaftlichkeit. Wissenschaft kann den Menschen nur als Naturwesen biologisch beschreiben. Aber der Mensch ist Mensch nicht von Natur aus. Der Mensch ist Schöpfer seiner selbst, und er hat potentiell die Fähigkeit sich reflektierend selbst und seine Gesellschaftlichkeit zu erkennen. Aber nicht mit den Mitteln der Wissenschaft. Mit ihrem Erfolg auf technischem Gebiet glauben sie die Welt erklären zu könne, dabei kann Wissenschaft die Natur nur beschreiben, aber nicht verstehen. Denn man kann nur verstehen, was man selbst geschaffen hat. Die Natur aber ist unerschaffen. Die Menschen könnten dagegen ihre eigene gesellschaftliche Welt erkennen und verstehen, weil sie von ihnen geschaffen ist. Dies sind die Worte einer ihrer Philosophen, von denen die heutige Menschheit glaubt, ihrer Erkenntnisse nicht mehr zu bedürfen

Einer ihrer führenden Physiker, der kürzlich verstorben ist warnte vor seinem Tode, vor einer Revolte gegen die wissenschaftliche Vernunft, die in jüngster Zeit an zunehmender Stärke gewinnt. Leider hätte auch er nicht zu sagen gewusst, was es mit der Ausbreitung des Irrationalen genau auf sich hat, dass die Irrationalität in der Verfasstheit der kapitalistischen Ökonomie ihre Wurzeln hat, und die Wissenschaften sowohl Teil des Problems, als auch möglicher Lösungen sind. Menschliche Wissenschaftler haben die Atombombe entwickelt. Keine vernünftig verfasste Zivilisation würde dies jemals tun. Die gesellschaftliche Macht liegt bei der Ökonomie und bei der Politik, nicht bei den Wissenschaften.

Unsere Abteilung, die sich mit der menschlichen Zivilisation befasst, ist der Ansicht, dass die Menschheit für ihr Überleben ihre Einheit als Gattung herstellen muss. Dafür muss sie ihre Spaltung in Stämme, Ethnien, Völker, Nationen und Staaten endgültig überwinden. Sie muss das Kapital und den Staat abschaffen. Als Voraussetzung dieses Ziels müsste der durch das Kapital ermöglichte Reichtum und wissenschaftliche Fortschritt für die Verbesserung der Lebensverhältnisse aller Menschen auf dem Planeten eingesetzt werden.

Es wäre dafür Sorge zu tragen, dass die leiblichen Bedürfnisse eines jeden Menschen gesichert sind. Dazu gehören die Versorgung mit Nahrung und sauberem Trinkwasser. Es gehört Kleidung dazu und eine menschenwürdige Unterkunft. Der Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung muss für jeden Menschen garantiert sein. Ebenso muss jeder Mensch freien Zugang zu allen kulturellen und sozialen Errungenschaften haben, die auf dem jeweiligen Stand der Zivilisation erreicht worden sind. Und überall dort wo Menschen leben müssen lebenswerte Verhältnisse hergestellt werden, auf die jeder Mensch einen Anspruch hat, aus keinem anderen Grund als dass er ein Mensch ist. Zur Grundvoraussetzung menschlicher Freiheit gehört die Abschaffung der Lohnsklaverei und jeglichen Arbeitszwanges. Damit verbunden ist die Abschaffung des Geldes. Natürlich darf es auch kein Privateigentum geben, womit nicht der Besitz von persönlichen Dingen gemeint ist. Das Eigentum an Grund und Boden, Produktionsmitteln, Wäldern, Bodenschätzen, Flüssen, Meeren und jeder Naturreichtum geht in den Besitz der ganzen Menschheit über.

Diese Bedingungen müssen erfüllt sein, damit die Menschheit überhaupt eine höhere Stufe der Zivilisation erreichen kann. Ansonsten befürchten wir den Untergang der Menschheit oder den Rückfall in die finsterste Barbarei.

Als außenstehende Zivilisation haben wir keinen Einfluss darauf wie die Menschheit ihre Zukunft gestaltet. Aus unserem Bericht kannst du entnehmen, dass es kein Weltstaat sein kann. Wir wissen auch, dass die Menschheit die Frage der Gewalt lösen muss. Uns ist aufgrund unserer eigenen sozialen Organisation bekannt, dass jede Gesellschaftsform nicht ohne eine Kodifizierung auskommt; das ist ein Rechtssystem, denn ohne soziale Regeln gibt es keine Gesellschaftlichkeit. Dafür braucht es eine Instanz, die befugt ist und die Möglichkeit hat soziale Regelverletzungen zu ahnden. Also gibt es auch in höheren Zivilisationsstufen eine Form der Gewalt. Eine herrschaftsfreie und vollkommen gewaltfreie Gesellschaft wird es nicht geben. Alles kommt darauf an diese Gewalt einer gesellschaftlichen Kontrolle zu unterwerfen.

Der Kollege unseres Beobachters macht eine Pause und sagt entschuldigend, "jetzt habe ich dir einen langen Vortrag gehalten, hoffentlich langweile ich dich nicht.“

„Nein“, antwortet dieser, „mich interessiert die mögliche Entwicklung solcher noch recht wenig fortgeschrittenen Zivilisationen. Wenn ich dich richtig verstehe befindet sich die Menschheit an einem Wendepunkt. Wir können nicht wissen wie und ob sie es schaffen eine neue soziale Ordnung zu schaffen und wie sie aussehen könnte.“

„Ja“, entgegnet dieser, „es gibt allerdings gewisse Bedingungen, von denen wir wissen, dass sie erfüllt werden müssen. Eine zukünftige Gesellschaft, selbst wenn sie die Gewalt nicht vollständig abschaffen kann, müsste die bisher immer durch Gewalt hergestellte soziale Synthesis durch eine andere, neue Synthesis ersetzen. In der Geschichte der Menschheit gab es soziale Formen, auf die sie als mögliche Denkanstöße zurückgreifen könnte. Die Selbstverwaltung der großen Metropolen samt angeschlossener. Provinzen wäre eine Idee. Im römischen Reich gab es in jeder bedeutenden Siedlung ein Amphitheater. Die Idee eines solchen öffentlichen Raumes in jedem Stadtteil könnten die Menschen dafür nutzen, überall einen Ort zu besitzen in dem sie ihre Belange vortragen und erörtern könnten. Sie müssten dort alltägliche Dinge regeln: die Abfuhr des Mülls, wo müssen Wohnungen renoviert werden, die Verteilung der Lebensmittel und Gebrauchsgüter usw., denn eine staatliche Verwaltung gibt es nicht mehr, wohl aber eine Selbstverwaltung. Die Stadtbewohner sind zuständig für alle Angelegenheiten, die sie betreffen: Verkehr, Schulen, medizinische Versorgung, Bibliotheken, Sportplätze usw. Es müssen keine politischen Repräsentanten gewählt werden, sondern die Zuständigkeiten und Aufgaben werden verteilt. Durchaus an dafür befähigte Spezialisten. Jeder kann im Rahmen seiner Fähigkeiten Aufgaben seiner Wahl übernehmen. Es gibt keine übergeordneten Instanzen. Jeder mit einer Aufgabe betreute ist der Gesamtheit der Mitglieder des Gemeinwesens verantwortlich. Was bisher politische Organe auf der einen Seite und Verwaltung auf der anderen Seite war fällt in Eins. Die Anwohnerversammlungen tagen in Permanenz in den dafür zu schaffenden Gebäuden und Plätzen, an so vielen Orten wie die Stadt Quartiere hat. Diese Stätten sind Orte der Begegnung, des Austausches, der Kommunikation, der Information, der Beratung, der Beschlussfassungen; sie sind der Ort der Öffentlichkeit des Gemeinwesens und das Herz der Stadt. Auf globaler Ebene könnten die Metropolen ein Netzwerk bilden mit dem alle übergreifenden planetarischen Fragen geregelt werden. Etwa die Versorgung mit Lebensmitteln und lebensnotwendigen Gütern dorthin wo Mangel herrscht. Aber das sind Spekulationen, wir beide haben keinen Einfluss darauf, wie sich die Menschheit in der Zukunft entscheiden wird. Erstaunlich ist aber wie wenig soziale Fantasie und Gestaltungswillen die Menschheit bei allem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt besitzt.“

„Ja“, erwidert unser Beobachter, „dieses Phänomen finde ich auch seltsam. Einerseits sind sie erfindungsreich und wagemutig in ihren Unternehmungen, andererseits so kleinmütig und kraftlos, wenn es um die sozialen Verhältnisse geht in denen sie leben. Gibt es irgendwelche Anzeichen, dass die Menschheit ihre Geschicke doch noch selbst in die Hand nimmt und ihren Gott Kapital stürzt?“

Sein Kollege antwortet ihm: „Wir wissen, dass die Zukunft offen ist. Es gibt immer viele mögliche Zukünfte, von denen eine jede mit einer größeren oder kleineren Wahrscheinlichkeit eintreten kann. Man muss die Menschheit deshalb zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht ganz aufgeben. Das Zeitfenster für eine Rettung schließt sich aber rasch. Wir haben Kenntnis von zwei sozialen Bewegungen unter der jüngeren Generation, die in letzter Zeit rasch an Umfang gewonnen haben. Sie fordern entschiedene Maßnahmen gegen die eingetretene Klimakatastrophe und gegen das Artensterben. Es handelt sich dabei um Schüler, die unter dem Motto „Fridays for Future“ streiken und eine Bewegung, die sich „Extinction Rebellion“ nennt.“

„Können diese Bewegungen etwas erreichen?“

„Sie müssen den Anstoß für einen größeren gesellschaftlichen Umbruch geben. Wenn sie nichts erreichen, wird es nach ihnen keine emanzipatorischen Bewegungen mehr geben. Es ist die letzte Chance.“

„Sind diese jungen Menschen fähig zu so einer gewaltigen Aufgabe?“

„Vor allem müssen Sie erkennen, dass wenn sie Erfolg haben wollen, nichts von den ökonomischen und politischen Sachwaltern des Kapitals erwarten dürfen. Alle Revolutionen in der Geschichte der Menschheit sind immer an mangelnder Radikalität gescheitert. Diese jungen Menschen haben gar keine Wahl mehr. Ihre Aufgabe ist es, einen Epochenumbruch einzuleiten und eine neue Welt zu errichten. Sie dürfen nicht dabei stehen bleiben berechtigte Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe und das Artensterben zu fordern, denn das reicht nicht. Solche Forderungen sind notwendig um der herrschenden Politik sofortige Maßnahmen gegen den Klimawandel abzunötigen. Sie müssten darüber hinaus Organisationsformen finden, die Strukturen einer möglichen künftigen Gesellschaft im Keim vorwegnimmt. Dazu gehört natürlich der vollständige Bruch mit den herrschenden Institutionen. Sie müssen sich den öffentlichen Raum in den Städten aneignen und eine Öffentlichkeit herstellen. Genau das tut man, wenn man öffentliche Plätze und Brücken besetzt. Das Ziel muss die Aneignung der Städte sein. Dafür ist es notwendig alle Bevölkerungsgruppen der Stadt als Bündnispartner zu gewinnen. Besetzungen von Plätzen und Gebäuden müssen in Permanenz stattfinden. Die Revolution ist nicht einfach der Kampf auf einer Barrikade. Entscheidend ist der herzustellende öffentliche Diskurs, der nie abreißen darf, und der die Trennung der Menschen untereinander in der gegenwärtigen falschen Gesellschaftsordnung aufhebt. Der Weg zur Befreiung der Menschheit führt meiner Ansicht nach über die Aneignung und Unabhängigkeit der Städte. Eine emanzipatorische Bewegung muss sich als städtische Bewegung gründen, und sie muss sich mit allen großen Städten eines Landes vernetzen und gleichzeitig global vernetzen mit allen großen Metropolen auf allen Kontinenten. Die herrschende Politik wird, wenn sie sich einer wachsenden revolutionären Bewegung gegenüber sieht , das tun was sie in solchen Fällen immer tut: Sie wird versuchen die Bewegung zu spalten; sie wird versuchen den radikaleren Teil der Bewegung von dem Teil zu trennen, der sich mit wohlfeilen Versprechungen ruhig stellen lässt. Wenn es gelingt die radikalen Kräfte zu isolieren, bekommen diese die volle Härte der staatlichen Repression zu spüren. Eine erfolgreiche emanzipatorische Bewegung darf sich nicht spalten lassen. Davon hängt ihr Erfolg ab. Und sie muss wissen: Die durch eine erfolgreiche revolutionäre Bewegung in die Enge getriebenen Sachwalter von Kapital und Staat sind zu allen Zugeständnissen bereit, die alle wieder zurückgenommen werden, sobald sich der Aufstand durch die gemachten Versprechungen hat aufhalten lassen. Ich werde dich jedenfalls über die neueren Entwicklungen auf dem Planeten auf dem Laufenden halten.“

„Es gibt da noch einen Punkt“, erwidert unser Beobachter, „den ich nicht ganz verstehe, mir ist zwar klar geworden, dass es die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind, die den Fortbestand der Menschheit bedrohen, was hat das Ganze aber mit Metaphysik zu tun?“

„Du hast es also gemerkt“, antwortet sein Kollege, „ich wollte dir diesen Punkt ersparen. Die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind eben ein durch das Kapital produzierter gesellschaftlicher Zustand. Daraus ergibt sich die Frage: Was ist das Kapital seinem Wesen nach? Ein berühmter menschlicher Philosoph ist dieser Frage nachgegangen. Mit einem verstörenden Ergebnis, das selbst bei fast allen seiner Anhänger nicht durchgedrungen ist. Um es kurz zu sagen, das Kapital lässt sich nach Maßgabe von Vernunft, Logik und Wahrheit nicht auf den Begriff bringen. Es lässt sich also nicht vom Wesen des Kapitals sprechen, da es sich um ein prozessierendes Unwesen handelt. Es ist etwas was es nach Maßgabe von Vernunft, Logik und Wahrheit gar nicht geben dürfte. Dafür müsste ich dir jetzt darüber berichten wie…“

Hier endete die letzte Seite des Textes. Seine Eigentümer hatten offenbar den anderen Teil mit sich genommen und würden den Verlust wohl auch erst bei genauerer Betrachtung bemerken. Deshalb waren sie wohl auch nicht zurückgekehrt, um ihre liegengebliebenen Papiere zu holen. Ich nahm sie mit mir als ich das Café verließ und meine Schritte in Richtung des Hotels lenkte in dem ich ein Zimmer genommen hatte, in der Absicht den Text zu kopieren und die Originalblätter zusammen mit einer Nachricht zurück zum Café zu bringen. Für den Fall, dass die rechtmäßigen Besitzer noch einmal zurückkehren würden, bat ich darin um die Freundlichkeit mir eine Kopie der fehlenden Seiten zukommen zu lassen. Zudem war ich neugierig auf die Autorin oder den Autor dieser Zeilen.

Ich sann darüber nach was ich gelesen hatte. Dabei kamen mir die Alpträume von denen HR Giger heimgesucht wurde, und von denen er sich in seinem künstlerischen Schaffen zu befreien suchte, wie ein Sinnbild für den realen Alptraum vor, von dem in den Papieren die Rede war; der sich über die Menschheit legte und sie zu verschlingen droht. Allerdings zweifelte ich daran, dass es da draußen irgendwo eine Welt geben sollte, die Anteil am menschlichen Schicksal nahm. So etwas musste man sich ja ausdenken, wenn die Menschheit sich weigerte Anteil an ihrem eigenem selbstverschuldetem Schicksal zu nehmen und in verstockter Uneinsichtigkeit unaufhaltsam dabei war in ihr Verderben zu rennen. Mit diesen Gedanken erreichte ich meine Unterkunft und widmete mich den in der Hotelbar verfügbaren Weinen und fragte mich, ob ich wohl eine Antwort von den unbekannten Besitzern der Papiere erhalten würde.

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