Die Angst geht um in Europa

(Vorsicht: Der folgende Text könnte auf sensible Menschen verstörend wirken.)

Wir, die Kinder derer, die im Krieg hatten Millionen von Menschen sterben sehen, wuchsen einfach so auf. Wir schliefen, aßen, tranken, gingen in der dafür richtigen Zeit in die Schule usf. Der einzige Ort, an dem über diesen unseligen Krieg gesprochen wurde, war die Schule; zu Hause sprachen wir darüber nicht, denn unsere Eltern waren noch - und blieben es beinahe bis an ihr Ende - starr vor Schrecken. Sie dachten und sagten: Meine Kinder sollen es einmal besser haben als ich.

Und weil sie so viel nicht hatten, ernährten sie uns zunächst einmal so gut sie konnten. Wir bekamen "gute Butter" und viel Milch, die ja so gesund ist. Wir bekamen Obst und Südfrüchte, wenn man sie denn kriegen konnte, und den Rest klauten wir in Nachbars Garten. Wir kriegten Eier am Sonntag zum Frühstück und jeden Tag eine warme Mahlzeit, in der oft kein Fleisch war, weil unsere Eltern sich das nicht leisten konnten. Aber als die sich das leisten konnten, aßen wir Fleisch die Menge. Und ein Frühstücksbrot für die Schule war kein richtiges, wenn nicht Wurst drauf war.

Kurzum: Sehr vieles in unserem Leben drehte sich ums Essen. Weil wir ja ständig wuchsen und unsere Eltern das als einfachsten Weg sahen, schlechte Zeiten, in denen man wirklich gehungert hatte, hinter sich zu lassen.

Dass wir dabei nicht dick wurden, lag daran, dass wir ständig draußen waren. Der Mythos von der guten, frischen Luft ging um, obwohl sich ahnen lässt, dass eine Horde Kinder in der viel zu kleinen Wohnung viel schwerer zu bändigen ist, als wenn man sie gleich nach draußen schickt.

So wurde aus dem guten Essen und der vielen Bewegung an frischer Luft eine Generation mehrheitlich schlanker Kinder, die agil durch die Welt gingen, nicht immer brav, aber doch irgendwie behütet, weil in der Masse waren. Eine Generation von Kindern, die arglos in die Welt schaute und nichts von den vielen Gefahren dort geahnt hätte, wären uns nicht Spielregeln an die Hand gegeben worden: Sei höflich zu Fremden, aber nimm nichts Süßes von ihnen und geh keinesfalls mit einem von ihnen mit, was auch immer sie erzählen. Wenn einer dich anspricht und es kommt dir komisch vor, hol einen Erwachsenen.

Mit diesem bescheidenen Rüstzeug kamen wir ganz gut durchs Leben.

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Heute, wenn ich mich umschaue und höre, dass Kinder aus welchen Gründen auch immer fragen: "Mama, muss ich auch sterben?", sage ich mir, dass Lügen eine furchtbare Sache ist. Sagts ihnen doch, dass es stimmt, sagt ihnen die schreckliche Wahrheit: "Ja, auch du mein Kind. JEDER."

Vielleicht, denke ich, wären sie dann nicht so schrecklich furchtsam geworden und hätten vor allem und jedem Angst, das vielleicht, eventuell krank machen könnte. Vielleicht aber würden sie dann auch lernen, auf Gefahren zu achten, eben weil das Leben ansich gefährlich ist. Was ja nicht heißt, dass es nicht dennoch schön sein kann. Warum sollte es nicht möglich sein, wenn man sie dazu anhält, entspannt und dabei dennoch gut wach zu sein?

Stattdessen wird eine Angst-Sau nach der anderen durchs Land getrieben, schon seit Jahrzehnten. Ich kann es gar nicht mehr alles aufzählen; es käme ein Riesenberg zusammen von

. Würmern in Fischen

. BSE im Rindfleisch

. das gute und das böse Fett

. Cholesterin

. Lactose

. Farbstoffe, Geschmacksverstärker, Verdickungsmittel, Konservierungsmittel

. Kohlehydrate

...

Gar nicht zu reden davon, dass nicht nur das Aussehen der Lebensmittel und ihre prima Konsistenz, sondern auch ihr Herstellungsprozess problematisch sein können. So vieles, das das Leben einfacher und das Essen zum Event machen soll, und zwar für so viel mehr Menschen als früher, dass es schwierig ist, dabei nurmehr natürlich zu produzieren und dabei so viel länger haltbar als früher. Denn in einem Single-Haushalt kann man Brot und Milch, die nach einem Tag schon hart und sauer sind, nicht brauchen. (Haben Sie schon einmal diesen Schlamm gesehen, der aus einer im Kühlschrank vergessenen Milchpackung heraussickert? Meine Mutter, am Ende eines Tages, goß die Molke ab und löffelte die Sauermilch vom Vortag mit großem Vergnügen.)

Was also wollen wir unseren Kindern sagen?

("Du wirst sterben, ja, natürlich. Find dich schon mal damit ab.";)

Aber es scheint, wir müssen gar nichts mehr sagen. Immer öfter höre ich von Kindern, die sich verweigern. Zweijährige, die noch immer an der Flasche hängen, obwohl sie bereits ein ansehnliches Gebiss haben. Ältere, die lieber nichts essen, wenn die Lieblingsspeisen nicht im Hause sind. Wer könnte, wenn er sein Kind anschaut und will, dass es ihm gut geht, tun, was unsere Eltern taten, nämlich darauf beharren: "Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt", immer wohlmeinend vorausgesetzt, dass wir schon das Richtige dahin stellen.

Und wie haben wir Erscheinungsformen von Gemeinschaftsverpflegung zu beurteilen, die aus unseren Kindern die Gesundheitsjunkies von morgen machen wollen? Höre ich doch immer öfter vom vegetarischen Tag für alle oder vom Tag des gesunden Früstücks, bei dem - man lasse sich das auf der Zunge zergehen! - sogar Bananen verboten sind. Weil sie Beläge auf den Zähnen bilden. Hätte sich DAS mal jemand vorstellen können? Nach den Kindern der Achtziger und Neunziger, die unentwegt an den Süßtees suckelten und sich dabei wirklich die Zähne verdarben, lernen die Kinder heute im Vorbeigehen, dass Bananen ungesund sind. Denn sie werden, nachdem sie im Kindergarten drei Jahre lang den Tag des gesunden Frühstücks hatten, nicht mehr fragen, wie denn eigentlich das mit der Banane zusammenhängt, sondern verinnerlicht haben, dass Bananen schaden, auf welche Weise auch immer. Wie ja sowieso jegliches Obst und Gemüse schon jetzt wie ein Feind behandelt wird: Abwaschen und zwar ganz gründlich, als ob die das nicht schon beim Herstellungsprozess täten. Es muss ja alles wie aus der Fabrik aussehen und irgendwie kommt es da ja auch her. (Oder wann haben Sie an irgendeinem Obst oder Gemüse das letzte Mal ein Stück Erde kleben sehen?)

Ich kann mich nicht erinnern, dass wir in meiner Kindheit irgendwie anders übers Essen gesprochen hätten als in der Weise, dass es Zeit wird, mal wieder heim zu gehen, weil man richtigen Hunger hat. Da wurde nicht auseinander genommen, was richtig und falsch ist. Da wurde auch nicht in Zweifel gezogen, was man da tat, solange es nur halbwegs gut schmeckte und satt machte. Und wahrscheinlich gabs damals auch weniger in Zweifel zu ziehen.

Und da wäre auch keiner daher gekommen, der einem gesagt hätte, dass man ins Fitnessstudio muss, weil man wieder drei Gramm zugenommen hat. Weil wir ohnehin genug Bewegung hatten, auch die Erwachsenen, die nicht jeden Meter mit dem Auto fuhren.

Stattdessen schweben wir unentwegt in Ängsten, studieren Statistiken, kleben panisch an nicht eingehaltenen Grenzwerten von was auch immer. Diese allgemeine Debatte um Scheingefahren lenkt uns Erwachsene von wirklichen Problemen ab und vermittelt den Kindern die große Sorge: Das Leben ist gefährlich.

Wobei sie wirkliche Gefahren verkennen, über die keiner spricht. Weil alle so tun, als hätten wir nicht nur ein Recht auf Sicherheit, sondern als wäre das Leben insgesamt, wenn wir nur denen, die dafür zuständig sind, ständig auf die Finger schauen, tatsächlich sicher. Das Leben ist eben nicht sicher. Und wenn ich unter Freiheit verstehe, dass alle, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, tatsächlich darauf zu schauen, dass Spielregeln jeglicher Art eingehalten werden, mit dem Verweis auf eben jegliche individuelle Freiheit ausgebremst und in ihre Schranken verwiesen werden dürfen und müssen, dann muss ich mich nicht wundern.

Während Kinder ganz selbstverständlich lernen, sich vor der Gefahr aus der Banane zu ängstigen, lernen sie nicht mehr, dass Lehrer, Polizisten und Co. zu respektieren sind, wie ja eigentlich jeder Mensch, der ihren Weg kreuzt. Im Einzelfall wird man sich überlegen können, ob das, was "der da" sagt oder an Verhalten einfordert, tatsächlich mit meinen Vorstellungen übereinstimmt. Aber erst einmal muss man zuhören. Wozu es Not tut, dass über die richtigen Dinge gesprochen wird. Die Gefahren im Essen sind ein Scheiß gegen so viele andere Gefahren, die wir unseren Kindern lieber verschweigen, statt ihnen klar zu machen, dass auch in unserer schönen, europäischen Welt das Leben kein Ponyhof ist und nicht alle Menschen rosa Schleifchen im Haar tragen.

Mit Freiheit hat die Verleugnung allgemeiner und schon immer vorhandener Gefahren nichts zu tun. Und man ist auch nicht unfreier, wenn man die Wahrheit weiß: Nicht alle Menschen SIND gut oder meinen es gut mit mir. Das meinen Kindern zu vermitteln, macht sie ein Stück weit autonomer, bremst Gefahren wirksamer aus und macht sie insgesamt lebensfähiger.

Und, so Gott will und wir es richtig gemacht haben, werden sie eines Tages ganz allein beurteilen können, was für ein Schmarrn das mit der Banane im Vergleich zu vielem anderen ist.

pixabay/Greyerbaby

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