In den letzten Jahren hat man sich hier und anderswo mehr als irgendwann zuvor mit unserer christlich-westlichen Lebens- und Denkweise befasst. Sie wurde oft einfach nur als Referenz zitiert. Und gemeint war damit: Zivilisation, Bildung, Umgangsformen und so fort.

Letzthin, als ich ankündigte, meine häusliche Bibliothek verkleinern zu wollen, meldete meine Tochter Wünsche an. U.a. wollte sie "den Knigge". Also dieses Buch, das heute als überkommen gilt und eigentlich nur dann noch, oft in modernisierter Form, besprochen wird, wenn wir gutes, richtiges Benehmen meinen.

In Wahrheit aber, erinnerte ich mich beim nochmaligen Aufschlagen, ging es Knigge, so sagt es schon der Titel ("Umgang mit Menschen" ), um sehr viel mehr als eben nur darum, welches Besteck und welches Glas man wofür nimmt und wer wen wie zuerst zu grüßen oder wem die Tür aufzuhalten hat. Auch wenn schon allein das Beherrschen dieser Regeln das Zusammenleben deutlich vereinfacht, hatte Knigge in einer sich damals von der Adelsherrschaft zum Aufstieg des Bürgertums wandelnden Gesellschaft auch im Sinne, allgemein Kränkungen zu vermeiden, Kränkungen der Anderen bei gleichzeitigem Schutz der eigenen Lebensart.

Insoweit weist das - in meiner Ausgabe - immerhin 438 Seiten starke Buch auch Lebensratschläge die Menge auf, die von einer (vornehmen?) Zurückhaltung und Diskretion zeugen, wie wir sie heute zuweilen gut brauchen könnten.

Auf u.a. auch dieses Buch nimmt ein weiteres Bezug, das ich gerade eben erst hörte. Da ist von Anstand* die Rede, was das bedeutet und ob es sich dabei nicht um eine überkommene Eigenschaft handelt. Selten habe ich so umfassende Betrachtungen über Anstand gehört oder aber selbst angestellt, weil ... das WEISS man doch. Was letztlich eine vergleichbare Floskel ist wie jenes andere "Das tut man ... nicht."

Macht man sich aber auf die Suche nach Erläuterungen, dann findet man entweder ein knappes "gutes Benehmen" oder aber seitenlange Abhandlungen, die den Wandel des Begriffs über die Zeiten ebenso aufgreifen wie sie unterschiedliche Deutungen sowie Abgrenzungen zur Sittlichkeit vornehmen.

Interessant ist nicht nur, als was der Autor Anstand sieht, sondern wie er sich auf verschiedene Positionen begibt und Verhaltensmuster verständlich und erklärbar zu machen sich bemüht. Ihm, der zweifellos selbst klar positioniert ist, gelingt dieses Ja-Aber, das politische Korrektheit ad absurdum führt und überhaupt die Idee, jemand könne stets glasklar nur einer Denkrichtung folgen. Wer selber denkt (sich also nicht vorgekauten Informationen aus den verschiedensten Medien ausliefert), darf und muss vielleicht seine Meinung ändern, möglicherweise jeden Tag. Und wer selber denkt, darf zweifeln und sich einer Meinung enthalten, auch wenn die Versuchung im Informationszeitalter groß ist, sich aus der Fülle eine andere Meinung anzulesen und diese für die eigene anzunehmen.

Der Selber-Denker ist einerseits selbst frei, andererseits aber womöglich kein fixes Mitglied einer ihn aufnehmenden Gruppe. Denn Gruppen wollen eben genau das: glasklare Zugehörigkeit, geschlossene Denkgebäude und all das. Was umso wichtiger ist, als wir in einer Zeit, da wir unsere Gesprächspartner oft gar nicht richtig, ja regelmäßig nicht einmal persönlich kennen, diese Glasklarheit ein vermeintliches Kennen ersetzt und oft erst die Gemeinschaft herstellt.

Man darf sich fragen, ob der vielfache Verzicht aufs Selber-Denken der notwendige Preis ist, den man zahlen muss, um irgendwo dazu zu gehören. Denn Zusammengehörigkeit und Zusammenhalt sind, schon allein evolutionär, die bedeutendsten Eigenschaften des Menschen, den nicht allein sein Gehirn oder der Daumen zu dem machten, was er ist.

Über Anstand nachzudenken, lohnt allemal, denke ich mir. Schon allein, um Kränkungen zu vermeiden. Aber auch, um vom Grundsatz her zwar Vorsicht bei Fremdem walten zu lassen, aber grundsätzlich stets erst das Beste vom anderen anzunehmen. Das verbessert die eigene Befindlichkeit und die des Anderen auch. Er hat eine Chance verdient und vielleicht hat er es ja ganz anders gemeint.**/ ***

*Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen. Kunstmann, München 2017

** Ich rede hier ausdrücklich über JEDEN neuen Menschen in unserem Leben. Um Flüchtlinge geht es hier eben gerade nicht.

*** PS: Über den Anstand nachzudenken und sich an anderer Leute Gedanken zum Thema zu begeistern, heißt nicht zwangsläufig, als Vorreiter aufzutreten. Damit sei jenen Freizeitkritiküssen, die sich gerne an Personen, statt an Themen abarbeiten schon mal der Wind aus den Segeln genommen.

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