Lo­kal­au­gen­schein auf der “Flücht­lings­in­sel” Lam­pe­du­sa – Was macht eine Po­li­ti­ke­rin im Hot Spot des ak­tu­el­len Asyl­dra­mas?

Als Mit­glied im Aus­schuss für Bür­ger­li­che Frei­hei­ten, Jus­tiz und In­ne­resdes Eu­ro­pa­par­la­ments war ich in den letz­ten Wo­chen nicht nur mit der ak­tu­el­len Flücht­lings­kri­se kon­fron­tiert, son­dern habe an der Er­stel­lung ei­nes po­li­ti­schen Lö­sungs­an­sat­zes in­ner­halb mei­nerli­be­ra­len Frak­ti­on (ALDE) mit­ge­ar­bei­tet. Das Er­geb­nis (sh. un­ser Grund­satz­pa­pier auf www.​alde.​eu) war in­ner­halb der po­li­ti­schen Grup­pe auf­grund des eu­ro­pa­wei­ten Kom­pro­mis­ses eine schwe­re Ge­burt, ist aber da­für jetzt ein­zig­ar­tig in den Rei­hen der eu­ro­päi­schen Par­tei­en.

Die­se “theo­re­ti­sche Ar­beit” war dann wohl auch der Grund für die Ein­la­dung nach Lam­pe­du­sa, wo mich Bür­ger­meis­te­rin Gu­i­si Ni­co­li­ni nicht nur emp­fan­gen, son­dern mir fast ei­nen gan­zen Tag lang ihre In­sel und die Vor-Ort-Pro­ble­ma­tik aus wirk­lich ers­ter Hand ge­zeigt hat.

Vom Flug­ha­fen ging es di­rekt zum Ha­fen, wo ge­ra­de zwei der an die­sem Tag vor ‪Li­by­en‬ ge­sich­te­ten Flücht­lings­boo­te an­ka­men. Die Men­schen im Bild wa­ren an die­sem Tag die Glück­li­chen – sie wur­den ge­ret­tet. Die Lage ist dra­ma­tisch und das Leid der oft noch mit Säug­lin­gen und Klein­kin­dern ge­flüch­te­ten Men­schen aus Sy­ri­en, Eri­trea, Li­by­en und an­de­ren Kri­sen­ge­bie­ten un­vor­stell­bar. Bar­fuß, nass und ohne Was­ser seit 18 Stun­den auf dem Meer, ein­ge­pfercht und von Schlep­pern aus­ge­nutzt, de­nen ein Men­schen­le­ben nicht viel wert ist – die­se Ka­ta­stro­phe ver­ant­wor­ten die ein­zel­nen Staa­ten, die sich am Schreib­tisch nicht auf ge­mein­sa­me Maß­nah­men ei­ni­gen kön­nen.

Die tat­säch­li­chen Le­bens­ret­ter vor Ort sind die Teams derita­lie­ni­schen Küs­ten­wa­che, die mit ih­ren Boo­ten im Dau­er­ein­satz sind. Die Schil­de­run­gen des Kom­man­dan­ten zei­gen, dass Vor­schlä­ge, wie das “Zer­stö­ren von Schlep­per­boo­ten” nur von Leu­ten kom­men kön­nen, die von der tat­säch­li­chen Si­tua­ti­on kei­ne Ah­nung ha­ben. Ihm zu­fol­ge kommt der Groß­teil der Flücht­lin­ge mit eher be­helfs­mä­ßig zu­sam­men­ge­bas­tel­ten “Boo­ten”. Das Pro­blem der “Boo­te”: Sie sind von vorn­her­ein nicht see­taug­lich und was­ser­dicht, so­dass sie beim Aus­fall des oh­ne­hin zu klei­nen Mo­tors, der mit ei­nerPum­pe das Was­seraus dem Boot brin­gen soll, ein­fach un­ter­ge­hen. Die Über­la­dung und der See­gang tun ihr Übri­ges. Wie ver­zwei­felt muss man sein, um sich auf die­ses Ri­si­ko ein­zu­las­sen? Die Mär, dass auch “Ter­ro­ris­ten” die­sen Weg zum Ein­si­ckern in Eu­ro­pa nut­zen, ist na­tür­lich eben­so falsch, wie dass die Schlep­per selbst auf den Boo­ten mit­fah­ren und da­her ge­fasst wer­den könn­ten. Der Ver­zwei­felts­te der Flücht­lin­ge wird ein­fach kur­zer­hand zum “Ka­pi­tän” der Irr­sinns­fahrt, die oh­ne­hin nur dar­auf aus­ge­rich­tet ist, weit ge­nug von Li­by­en weg­zu­kom­men, um von ir­gend­ei­nem eu­ro­päi­schen Schiff ge­ret­tet zu wer­den.

Die Ge­schich­ten der Flücht­lin­ge, die an­schlie­ßend in ein Erst­auf­nah­me­zen­trum der ita­lie­ni­schen Be­hör­den ge­bracht wer­den, sind auch beim wie­der­hol­ten Mal im­mer wie­der un­glaub­lich. Die Über­fahrt im Mit­tel­meer stellt ja meist nur den letz­ten Teil ei­ner oft jah­re­lang dau­ern­den Flucht dar, die bei je­nen, mit de­nen ich ge­spro­chen habe, in So­ma­lia, Eri­trea und Sy­ri­en be­gon­nen hat.

Die ak­tu­el­le Über­fül­lung der für 350 Per­so­nen aus­ge­rich­te­ten An­lauf­stel­le auf Lam­pe­du­sa (al­lein wäh­rend mei­nes Auf­ent­halts wur­den knapp 1000 Boots­flücht­lin­ge auf die In­sel ge­bracht) macht es not­wen­dig, dass Schlaf­la­ger im Frei­en er­rich­tet wer­den müs­sen. Trotz al­ler Be­mü­hun­gen der in­vol­vier­ten NGOs er­gibt das na­tür­lich ein schlim­mes Bild. Wenn wir uns 28 Staa­ten mit “Mensch­lich­keit als Richt­schnur” nen­nen wol­len, muss die­ser Zu­stand ein Ende ha­ben. Die ein­zel­nen Re­gie­run­gen müs­sen auf­hö­ren, die Ver­ant­wor­tung hin- und her­zu­schie­ben und die Zu­stän­dig­keit an die EU ab­tre­ten, da­mit hier ein­ge­grif­fen wer­den kann. Wir brau­chen Ver­tei­lungs­schlüs­sel und So­li­da­ri­tät un­ter den EU-Staa­ten!

Die Lage vor Ort und das Tref­fen mit der Bür­ger­meis­te­rin Ni­co­li­ni ha­ben mir ein­mal mehr die ab­so­lu­te Not­wen­dig­keit ei­ner ge­mein­sa­men eu­ro­päi­schen Asyl­po­li­tik vor Au­gen ge­führt. Men­schen­rech­te und So­li­da­ri­tät bil­den für mich das Fun­da­ment der Eu­ro­päi­schen Uni­on, und ich glau­be, dass alle 28 Mit­glieds­staa­ten der EU die­se Ver­ant­wor­tung nun le­ben und so­for­ti­ge Hilfs­maß­nah­men be­schlie­ßen müs­sen. Wenn es gilt, Men­schen­le­ben zu ret­ten, führt kein Weg an ei­nem Mare No­strum 2 vor­bei. Als Bür­ge­rin­nen und Bür­ger der Eu­ro­päi­schen Uni­on ha­ben wir die Pflicht, Men­schen, die vor Leid und Krieg flüch­ten, auf­zu­neh­men und ih­nen Schutz zu bie­ten. Wir dür­fen die Last nicht Ita­li­en und Mal­ta al­lein auf­bür­den und schon gar nicht ei­ner klei­nen In­sel wie Lam­pe­du­sa über­las­sen.

Mir ging es bei dem Be­such dar­um, Auf­merk­sam­keit auf die Si­tua­ti­on und die po­li­ti­schen Lö­sungs­an­sät­ze zu ge­ne­rie­ren und den Leu­ten vor Ort Wert­schät­zung ent­ge­gen- und Mo­ti­va­ti­on mitzu­brin­gen.

Wenn dann in­ter­es­sier­te Jour­na­lis­ten, wie von der Kro­nen Zei­tung, den von mir be­such­ten NGOs Save the Child­ren Ita­lia und Me­di­ter­ra­ne­an Hope Fra­gen stel­len, merkt man, wie die­se Zie­le er­reicht wer­den. Wenn sich an­de­re Re­gie­run­gen den li­be­ral ge­führ­ten an­schlie­ßen und sich un­ser Grund­satz­pa­pier zu Her­zen neh­men, kann dar­aus et­was wer­den. Der nächs­te EU-Gip­fel im Juni wird den Weg wei­sen.

Mei­ne Con­clu­sio:

Der EU-Son­der­gip­fel der EU-Staats- und Re­gie­rungs­chefs hat die er­hoff­ten Lö­sun­gen zu so­for­ti­gen Hilfs­maß­nah­men für die dra­ma­ti­sche Si­tua­ti­on nicht er­bracht. Eine Lö­sung kann nicht sein, Flücht­lin­ge in de­ren Hei­mat­län­der ab­zu­schie­ben und mög­lichst hohe Zäu­ne rund um uns zu er­rich­ten. Die ein­zi­ge ziel­füh­ren­de Ant­wort da­für ist das Zu­ge­ständ­nis zu ei­ner ge­mein­sa­men eu­ro­päi­schen Asyl­po­li­tik und die Schaf­fung ei­ner eu­ro­päi­schen Asyl­be­hör­de, da­mit sol­che Tra­gö­di­en in Zu­kunft ver­hin­dert wer­den kön­nen. Der So­li­da­ri­täts­ge­dan­ke muss sich auch in ei­nem ge­rech­ten Ver­tei­lungs­schlüs­sel der Flücht­lin­ge auf die Mit­glieds­staa­ten wi­der­spie­geln. Par­al­lel dazu brau­chen wir eine eu­ro­päi­sche Mi­gra­ti­ons­po­li­tik, da­mit Zu­wan­de­rung le­gal und ab­seits der Flücht­lings­strö­me statt­fin­den kann. Ei­nes mei­ner Zie­le ist es da­her, die Ver­mi­schung der bei­den The­men Mi­gra­ti­on und Flucht zu be­en­den, da dies ein wei­te­res Pro­blem der ak­tu­el­len po­li­ti­schen De­bat­te ist. So­ge­nann­te “Wirt­schafts­flücht­lin­ge” oder Mi­gran­t_in­nen, nut­zen den Weg des “Asyl­an­tra­ges” ja nur, weil es kei­ne le­ga­le Mög­lich­keit zur Auf­nah­me in der EU gibt. Wenn wir kla­re Re­geln schaf­fen, wie eine für uns ja eu­ro­pa­weit not­wen­di­ge Zu­wan­de­rung aus­se­hen kann, wer­den die hoch­ris­kan­ten Mit­tel­meer­kreu­zun­gen si­cher we­ni­ger und zu­gleich müs­sen wwir uns we­ni­ger Ge­dan­ken über Ret­tungs­maß­nah­men ma­chen.

Die Flücht­lings­strö­me wer­den in den kom­men­den Mo­na­ten nicht auf­hö­ren. Um die­sem vor­her­seh­ba­ren Leid und der mensch­li­chen Ka­ta­stro­phe ent­ge­gen­zu­wir­ken, be­darf es ei­ner klar aus­ge­ar­bei­te­ten Stra­te­gie zu ei­ner ge­mein­sa­men EU-Asyl­po­li­tik: Vor­schlä­ge zu kurz­fris­ti­gen Hilfs­maß­nah­men und lang­fris­ti­gen Lö­sun­gen hat die ALDE im Rah­men der Prä­sen­ta­ti­on ei­nes Grund­satz­pa­piers zur Eu­ro­päi­schen Asyl­po­li­tikvor ei­ner Wo­che vor­ge­legt. “So­li­da­ri­tät, Mensch­lich­keit und Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein” sind Wer­te auf die wir uns wie­der be­sin­nen und dem­entspre­chend han­deln soll­ten. Mein Ap­pell ist drin­gen­der denn je: Ent­we­der die Re­gie­run­gen der Mit­glieds­staa­ten über­neh­men nun die Ver­ant­wor­tung, oder sie über­tra­gen sie auf die bes­ser ge­eig­ne­te, über­ge­ord­ne­te, die eu­ro­päi­sche Ebe­ne.

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