Das Prinzip der "degressiven Proportionalität" bei der Verteilung der Mandate im EU-Parlament bedeutet, dass kleine Länder leicht überrepräsentiert sind und große Länder leicht unterrepräsentiert.

Gerechtfertigt wird diese Verzerrung

einerseits mit Föderalismus, dass man die kleinen Länder eben etwas stärken muss, damit sie Gehör finden,

zweitens damit, dass es in der Regel die großen Staaten alleine sind, die bei Konferenzen und Gipfeln dominieren, während die Kleinen hier völlig ausgeschlossen sind: so waren beispielsweise bei den Minsk-Verhandlungen 2015 von den EU-Staaten nur Deutschland und Frankreich vertreten, aber kleinere Länder nicht. Ähnlich beim G-7-Gipfel, bei dem von den EU-Staaten nur Deutschland, Frankreich und Italien vertreten sind und kleinere eben nicht.

Es gibt praktisch in allen Bundesstaaten und föderalistischen Systemen eine derartige Aufwertung der Kleinen: im US-Senat entsendet jeder Bundesstaat 2 Senatoren, egal, wieviel Bevölkerung er hat, und auch die Wahlmänner/Elektoren bei der US-Präsidentenwahl werden verteilt im Verhältnis der Kongressmitglieder der jeweiligen Bundesstaaten, also der Mitglieder in Repräsentatenhaus und Senat, womit sich wieder eine Überrepräsentation der Kleinen ergibt.

In Österreich gibt es für die zweite Parlaments-Kammer, den Bundesrat, die Regelung, dass alle Bundesländer mindestens 3 Bundesräte entsenden, auch dann, wenn sie eine Bevölkerung haben, die nur einem oder 2 Bundesräten entsprechen würde. Dies hat in der Vergangenheit 2 Bundesländern, nämlich Vorarlberg und Burgenland zusätzliche Bundesräte verschafft, die sie ohne diese Regelung nicht bekommen hätten.

Der AFD-Bundespräsidentschaftskandidat und Universitätsprofessor Max Otte behauptet in diesem Video (ab Minute 2:54), dieses System der degressiven Proportionalität würde den nördlichen Ländern schaden und den südlichen nutzen. Er erwähnt dabei nur die Länder Deutschland (also ein nördliches Land) und die südlichen Länder Malta und Zypern.

Wenn die EU nur aus diesen drei Ländern bestehen würde, dann hätte Otte ja recht, und die nördlichen Länder wären benachteiligt, die südlichen bevorzugt.

Aber wenn man alle 27 EU-Länder insgesamt betrachtet, dann ergibt sich das genau gegenteilige Bild, von dem, das Otte fälschlicherweise zeichnet.

Als Methodik, um Ottes Behauptung zu überprüfen, habe ich folgendes, weil Otte die Grenze zwischen Nord und Süd nicht definiert, entwickelt:

Alle 27 EU-Länder werden nach dem Breitengrad der Hauptstadt gewertet, also z.B. Deutschland nach Berlin 52 Grad 31 Minuten Nördlich, Italien nach Rom 41 Grad 51 Minuten Nördlich:

Wenn man den 53. Breitengrad als Grenze zwischen Nord und Süd definiert, dann ergeben sich 7 Nordstaaten (die skandinavischen Staaten, das Baltikum und Irland) und die Nordstaaten bekommen 2.66 Mandate pro Million Bürger ( "Million Bürger" abgekürzt als M), hingegen die Südstaaten 1.5 Mandate pro Million.

Bei Grad 52 und Grad 51 gibt es 10 Nordstaaten, die 1.54 Mandate pro M bekommen, hingegen die Südstaaten 1.61.

Bei Grad 50 gibt es 12 Nordstaaten, die 1.58 Mandate pro M bekommen, hingegen die Südstaaten 1.585 (also fast genau dasselbe).

Bei Grad 49 gibt es 13 Nordstaaten, die 1.606 Mandate pro M bekommen, hingegen die Südstaaten 1.566.

Etc. weitere Breitengrade.

Bei Grad 42 gibt es 21 Nordstaaten, die 1.63 Mandate pro M bekommen, hingegen die Südstaaten 1.47.

Wenn man einen Durchschnitt über alle diese Verteilungen (vom 53. Grad bis zum 42. Grad) bildet, dann erhalten die Nordstaaten 1.673 Mandate pro Million Einwohner, hingegen die Südstaaten 1.47 Mandate pro Million Einwohner.

Dass sich bei Betrachtung aller 27 EU-Staaten genau das gegenteilige Bild ergibt von dem, das AFD-Präsidentschaftskandidat Otte zeichnet, liegt daran, dass Otte die 7 nördlichsten Staaten verschweigt, die alle kleine oder eher kleine, aufgewertete Staaten sind: Finnland, Estland, Schweden, Lettland, Dänemark, Litauen, Irland mit 1.3 bis 10.5 Millionen Einwohnern.

Ebenso wie Otte verschweigt, dass 2 der südlichen Staaten große sind, nämlich Italien und Spanien mit 59 Millionen und 47.4 Millionen, die beide durch das System der degressiven Proportionalität "benachteiligt" sind, ähnlich wie Deutschland.

An und für sich hat Max Otte vor 10 oder 15 Jahren seriöser und faktenorientierter argumentiert.

Und weil Otte in seinen Aussagen wesentlich falscher geworden ist, kann man vermuten, dass es bei der Entscheidung zur Präsidentschaftskandidatur eine Art Bedingung der AFD gewesen sein könnte, dass er in Zukunft mehr lügen muss, um AFD-Bundespräsidentschaftskandidat zu werden.

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass Otte absichtlich lügt, um seine eigene Partei zu beschädigen, weil er sie und das AFD-Personal für ungeeignet hält für eine zentrale Rolle innerhalb der Regierung (z.B. KanzlerInnen-Partei). Als reicher Mann könnte es ihm egal sein, wenn die AFD die Kontakte zu ihm abbricht, im Gegensatz zu vielen anderen AFD-Vertretern, die finanziell völlig abhängig sind vom Politikergehalt und die anders als Otte nicht reich sind.

Diese falsche Behauptung von Otte, in der EU wären die Nordstaaten benachteiligt, hingegen die Südstaaten bevorzugt, wird, soweit ich das gesehen habe, in den Medien und der Politik überhaupt nicht kritisiert, aus welchen Gründen auch immer.

Vielleicht glauben Alle blind das, was Max Otte sagt (z.B. weil er Universitätsprofessor ist), vielleicht glauben die anderen Parteien auch, es reiche der Nazi-Vorwurf, vielleicht sind auch viele Medienleute und Politiker zu sehr mathematisch herausgefordert, als dass sie die Aussage von Otte auf diese Weise überprüfen könnten, oder als dass sie erkennen könnten, dass diese Otte-Aussage falsch oder sogar krass falsch sein könnte. Es könnte auch sein, dass alle deutschen Parteien aus deutsch-europäischer Verhandlungstaktik heraus ein potenzielles Motiv haben, die Fehler oder Lügen von Otte bzw. angeblicher Benachteiligung des Nordens durch degressive Proportionalität zu vertuschen.

Ebenso verschweigt Otte, dass diese Aufwertung der Kleinen ein Charakterzug der meisten föderalistischen Systeme ist.

Ebenso verwickelt sich Otte in Widersprüche: das EU-Parlament hat derzeit keine gesetzgeberische Funktion, und daher ist die Bedeutung dieser degressiven Proportionalität derzeit recht gering. Otte müsste so gesehen eigentlich dazusagen, dass das EU-Parlament derzeit keine gesetzgeberische Funktion hat, was aber nicht der möglichst große, aufgeblasene Skandal wäre, der zur AFD-Rhetorik passt.

Auch die Behauptung, es dürfe kein Deutscher EZB-Chef werden, ist äußerst fragwürdig. Deutschland entsendete immer Mitglieder in den EZB-Direktorium. Oftmals gewichtige wie Jürgen Stark. Und der Holländer Duisenberg betrieb eine praktisch-deutsche EZB-Politik, weil die Interessen Deutschlands und der Niederlande sehr ähnlich sind. Frankreich ist mit 0.44% BIP ein ähnlich großer Nettozahler im Rahmen der EU wie Deutschland mit 0.56%.

Auch die Kritik an EZB-Chefin Lagarde in diesem Video erscheint überzogen: sie ist keine Schwerkriminelle, wie im Video angedeutet, sondern wurde straflos verurteilt wegen Nichtverhinderung einer Bereicherung Anderer.

Alles in Allem wirft diese Art der Faktenfälschung, der Verschweigung, ein schlechtes Licht auf die AFD und auf den AFD-Präsidentschaftskandidaten Otte selbst (bei Otte mit Ausnahme der absichtlich-eigene-Partei-Beschädigungs-Theorie).

Die Lügen oder bedingten Lügen der AFD geben auch dem Parteinamen eine potenzielle neue Bedeutung: Nämlich "Alternative zur Wahrheit für Deutschland". Als "bedingte Lüge" bezeichne ich eine Aussage, von der man ahnt, dass sie falsch sein könnte, die man aber akzeptiert, weil sie in die Parteipropaganda passt, und die man trotz der Fragwürdigkeit nicht überprüft. Diese Bezeichnung der "bedingten Lüge" geschieht in Anlehnung an den "bedingten Vorsatz" im Strafrecht.

P.S.: die Langversion der Überschrift hätte eigentlich heissen sollen: "Will die AFD mit Lügen die EU zerstören, oder ist sie zu blöd, um zu bemerken, dass ihre eigenen Aushängeschilder sie absichtlich beschädigen, oder was ?", aber eine solche Überschrift wäre wohl zu lang gewesen.

P.S.2: der Einwand, dass die AFD alleine die EU gar nicht zerstören könne und es daher vermutlich auch nicht probieren würde, weder mit Lügen noch ohne, mag zwar vordergründig überzeugend klingen, aber

1.) die AFD könnte u.U. den EU-Austritt Deutschlands bewirken, dann würde die EU ein zentrales Land verlieren und wäre sowohl in Nord-Süd-Richtung als auch in West-Ost-Richtung zweigeteilt, was eine ziemliche Krise wäre.

2.) im Zusammenwirken mit den anderen Rechtsparteien, bzw. Rechtsextremen Parteien, wie RN, Vlaams Belang, FPÖ, PVV, etc. hat die AFD durchaus Chancen, die EU zu zerstören. Der Einwand, dass sie es alleine nicht könne, überzeugt daher nicht.

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