#Brexit – ein politisches Lehrstück. Doch mit welchen Konsequenzen?

Als ich am Freitag morgen aufstand und die Nachrichten las, war ich überrascht und geschockt. Über 51% der Briten hatten sich für den EU-Austritt entschieden. Entgegen der Umfragen, entgegen den Erwartungen vieler. Was weiter passieren wird, ist vollkommen unklar.

Über die Ereignisse der letzten 40 Stunden haben Bloggende auf fischundfleisch bereits Kluges und Lesenswertes geschrieben. Und sich Fragen gestellt, wie z.B. „Wird die EU an der Entscheidung Britanniens zerbrechen?“, „Ist Merkels Politik vielleicht Schuld am Ausgang des Referendums?“, „Darf die ältere Generation die jüngere auf diese Art und Weise überstimmen?“. Keine dieser Fragen kann ich beantworten. Kann das überhaupt jemand?

Stattdessen möchte ich über einen anderen Aspekt dieser Entscheidung schreiben. Über den #Brexit als politisches Lehrstück.

In den letzten Jahren (sogar Jahrzehnten) war Großbritannien kein leichter EU-Partner. Ständig gab es Forderungen nach Sonderwegen, Querelen, hin und wieder sogar eine Drohung an die EU. Europäische Politiker appellierten vor der Volksentscheidung, die EU nicht auf diese Weise zu zerreißen, sondern für die Gemeinsamkeiten, für den Zusammenhalt zu stimmen. In Großbritannien dagegen erlebten die Menschen Stimmungsmache – die EU als Sündenbock für leere Gesundheitskassen, das Beschwören eines alten „Commonwealth“, die Abkehr von der europäischen Idee. Viele Menschen glaubten der Propaganda. Andere wollten einfach „ein Zeichen setzen“. Aus welchen Gründen auch immer: Das Volk entschied, dass es die EU verlassen möchte. Und nun reagieren die Politiker der EU trotzig. Nun wollen sie Großbritannien lieber gestern als morgen gehen sehen, fordern, die Entscheidung müsse nun so schnell wie möglich umgesetzt werden. Und akzeptieren dabei stillschweigend, vielleicht sogar mit ein wenig Häme, dass es nicht die EU ist, die daran zu zerbrechen droht. Sondern ein United Kingdom, das in dieser Sache so gar nicht united steht.

Ich kann das gut nachvollziehen. Die europäische Mutter hat genug vom verwöhnten Kind England und setzt nun Grenzen. Bis hierhin und nicht weiter, Volksentscheid ist Volksentscheid, so long, Großbritannien! Das ist eine durchaus menschliche Reaktion. Aber ist es auch die richtige?

Nach der Wahl waren viele Menschen in Großbritannien selbst geschockt. Die jüngeren, die vor allem für einen Verbleib in der EU gestimmt hatten, aber auch viele andere, die sich bereits kurz nach der Entscheidung als Opfer einer propagandistischen Politik sehen. Denn natürlich können die EU-Gegner in der Politik den Menschen nicht garantieren, dass nun die Gesundheits- und Sozialkassen besser dastehen werden. Was der EU-Austritt für die Wirtschaft Großbritanniens für Folgen haben wird, ist nämlich noch gar nicht abzusehen. Viele bereuen also ihre Wahl beim Referendum bereits jetzt. Andere googeln, was der EU-Austritt eigentlich bedeutet. In Deutschland machen sich Menschen über diese plötzlichen Google-Abfragen der Briten lustig. Ich persönlich finde es nicht lustig, einem Volk eine Entscheidung aus (zumindest teilweiser) Unwissenheit vorzuwerfen. Denn genau so entscheiden auch wir in Deutschland die Wahlen. Wir als Volk fallen genauso auf Demagogen und Hetzer herein – und das nicht nur vor 70 Jahren, sondern heute. Ganz aktuell. Und auch wir wissen oftmals nicht, was unsere zum Teil aus dem Bauch oder aus Angst getroffenen Entscheidungen bedeuten. Wir bekommen von unseren europäischen Nachbarn vorgeführt, was durch fehlendes politisches Interesse und den Glauben an eine traditionalistische Politik passieren kann. Es sollte uns ein Lehrstück sein.

Was nun, Europa?

Als ich 18 war, flog ich von zuhause raus. Mein Vater und seine Frau setzten mich mitten im Vorabitur vor die Tür, ohne große Erklärung. Ich bekam zwei Tage, um meine Sachen zu packen, und wohnte im Anschluss erst bei einer Freundin, später allein, um meinen Abschluss zu machen. Jahrelang hatte ich kaum Kontakt zu meinem Vater, und meine Stiefmutter wollte mich nicht sehen. Eine Erklärung für ihre Wut auf mich bekam ich auch ein Jahrzehnt später nicht. Trotzdem sind wir heute befreundet und verbringen sogar einen Jahresurlaub zusammen.

Warum ich das im Zusammenhang mit dem Brexit erzähle?

Weil mir meine 11-jährige Tochter heute Morgen am Frühstückstisch sagte, sie hätte meinen Eltern an meiner Stelle diesen Rauswurf nie verziehen. Bisher wusste sie nichts darüber, ich hatte das immer für mich behalten, und heute morgen rutschte es mir in einem anderen Zusammenhang irgendwie heraus. Ich erklärte ihr, dass ihre Geburt damals viel verändert hatte. Seit ihrer Geburt bemühten sich mein Vater und seine Frau sehr intensiv um einen Platz in unserem Leben. Den ich ihnen einräumte. Ich stellte mein Ego und meine seelischen Verletzungen zurück und beschloss, die Wut der Vergangenheit genau dort zu lassen. Für die Beziehung meiner Eltern zu meinen Kindern.

Auch im Fall des #Brexit geht es vor allem um zukünftige Beziehungen, nicht nur solche politischer Art. Es geht um Beziehungen von Ländern, Nationen und Menschen unter einander, die in diesem Moment von Politikern und ihrem Handeln abhängen. Die kommenden Tage und Wochen werden diese Beziehungen auf Jahre und Jahrzehnte bestimmen.

Ich wünsche mir, dass die EU Großbritannien die Zeit einräumt, einen möglichen Fehler zu korrigieren. Wenn unsere Nachbarn weiter zu ihrer Entscheidung stehen, werden sich die Konsequenzen für Großbritannien und Europa zeigen. Nach diesem Referendum darauf zu drängen, Großbritannien so schnell wie möglich auszuschließen, ist trotzig und verkennt, dass Menschen Fehler machen – egal ob es sich dabei um einzelne Menschen in politischer Funktion, oder um ein ganzes Volk handelt. Die zukünftigen Beziehungen sollten dabei, obwohl wir sie nicht kennen oder absehen können, als das höchste und schützenswerteste Gut betrachtet werden.

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