Wladimir Putin ist seit über 20 Jahren an der Macht. Zug um Zug hat er sämtliche Konkurrenz eliminiert: zu ehrgeizige Oligarchen, Politiker und Militärs, die freie Presse, das Internet. Normalerweise erkennt man intelligente Menschen an ihren Selbstzweifeln; die dümmsten Menschen jedoch daran, dass sie sich überall für Experten halten, weil sie vom eigenen Unwissen keine Ahnung haben. Der Mann an der Spitze ahnt das – und achtet immer misstrauischer auf Loyalität. Was dazu führt, dass er immer absurder frisierte Nachrichten bekommt. Und nicht nur er, auch seine Minister. Und deren Beamten. Und endlos weiter hinunter in der Befehlskette.

Was dazu führt, dass jeder harmlose Spezialist mit realistischem Blick wegen Loyalitäts­problemen Ärger bekommt. Am Ende bestehen grosse Teile des vom starken Mann regierten Imperiums nur noch auf dem Papier und in der Fantasie seiner Bewohner. Ein Reich aus Vakuum entsteht.

Das Vakuum verschärft sich, wenn der oberste Chef ein Gangster ist. Und Putin ist märchenhaft reich – nicht wenige Analysten halten ihn für den reichsten Menschen des Planeten. Offiziell verdiente er zwar vor den Sanktionen um die 140’000 Dollar, so zumindest eine offizielle Angabe aus dem Jahr 2018; aber allein sein Ferien­häuschen am Schwarzen Meer ist ein Traum aus cremefarbenem Kitsch für 1,4 Milliarden Dollar.

Und auch wenn Präsident Putin bewundernswert diskret ist – seine Vertrauten wurden alle Milliardäre.

Nun sollte man eigentlich denken, Gangster verstehen etwas von Gewalt. Es ist ihr Kerngeschäft. Und Putin investierte auch systematisch mehrere hundert Milliarden Dollar in die Modernisierung der russischen Armee.

Doch als er sie in die Ukraine befahl, standen in den Zeug­häusern oft nur Rost und Papier – Panzer hatten keine Ersatzteile, die Raketenwerfer brüchige Reifen, der Treibstoff war nirgendwo auffindbar. Die Truppen hatten im Umgang mit Geld von ihrem Kommandanten gelernt. Putins Modernisierung landete zum Grossteil in Uniform­taschen, in Yachten und Villen.

Und wie bei Diktatoren üblich, investierte die Armee in funkelnde Superwaffen, aber viel zu wenig in langweilige Lastwagen. Eine Armee ist vor allem ein Logistik­unternehmen. Ohne Nachschub ist sie ein Koloss ein toter Kadaver.

Putins anderes Problem ist: Mit reiner Gewalt gewinnt man Macht, aber man verliert den Krieg. So wurden seine Soldaten in der ganzen Ukraine mit Panzerabwehr­raketen begrüsst. Dabei war – zumindest im Osten des Landes – ein Empfang mit Blumen erwartet worden.

Mit Grund. Die Ukraine war lange tief gespalten: der ukrainisch­sprachige Westen, der russisch­sprachige Osten. Bei allen Wahlen bis zur Maidan-Revolution 2014 hatten beide Teile komplett andere Parteien gewählt – im Westen pro Europa, im Osten die Kandidaten des Kreml. Doch das änderte sich: 2019 wurde Selenski flächendeckend gewählt. Warum? Weil Putin gehandelt hatte. Gleichzeitig mit der Besetzung der Krim finanzierte und bewaffnete er 2014 auch die Rebellion in zwei ukrainischen Provinzen im Donbass. Dort regierten nun seit acht Jahren putintreue Kriegsherren, führten Dauerkrieg und raubten alle aus, die sich ihrer Truppe nicht anschlossen. In Russland konnte Putin das als Befreiung verkaufen – in der Ukraine war man zu nah dran und erkannte, was man von den Russen zu erwarten hatte.

So war den russischsprachigen Ukrainerinnen klar, dass Putin nicht ihr Bruder war, sondern der Bruder der Gangster – und dass sie wie die Löwen kämpfen mussten, wenn ihnen ihre Zukunft, ihre Freiheit und ihr Leben lieb war. (Was sich als richtige Vermutung heraus­stellte: Die mehrheitlich russisch­sprachigen Städte werden nun genauso Tag für Tag von der russischen Armee zu Schutt geschossen wie rein ukrainisch sprechenden Gebiete.)

Doch die wirkliche Tragödie an einer Autokratie sind nicht die gestohlenen Milliarden, sondern das gestohlene Leben. Weil die Gesellschaft systematisch mit Zynikern, Bürokratinnen und Idioten durchsetzt wird.

Weil Autokratien von der Struktur her der Mafia gleichen: der Boss, seine Vertrauens­leute, deren Vertrauens­leute, dann der Rest der Welt.

Mafiabanden sind nicht inkompetent: Sie beherrschen das Aussaugen von Geschäften perfekt. Aber nicht deren Aufbau. Deshalb sind sie weltweit vor allem in illegalen Branchen wie Drogen­schmuggel tätig. Oder wenn legal: in einfachen Geschäften. Der Klassiker ist der Export. Wer gestohlene Ware verkauft, macht immer Marge.

Übernimmt eine Mafia jedoch eine komplexere Branche, etwa eine Industrie in einem umkämpften Markt, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Sie ruiniert das Geschäft fast umgehend. Oder sie hört auf, eine Mafia zu sein.

Diese Logik, so der Historiker und Journalist Kamil Galeev, erklärt die wirtschaftliche Macht­struktur in Putins Russland:

* Vom Einfluss, Vermögen, Prestige her ganz oben stehen die Oligarchen der Öl- und Gasindustrie. Diese wurde den alten Oligarchen weggenommen und ist jetzt unter der Kontrolle von Putins Vertrauten. Weil sie den Löwenanteil an den Exporten ausmacht – und weil Rohstoffe verkaufen auch ohne jede Erfahrung lukrativ ist: Jeder Idiot kann damit sehr schnell sehr reich werden.

* Die Ausbeutung von Gold, Eisen, Nickel, Kupfer etc. verlangt einiges mehr an Know-how. Putin beliess die Schürf­rechte deshalb in den Händen der Oligarchen, die er von seinem Vorgänger im Präsidenten­amt, Boris Jelzin, übernommen hatte – unter der Bedingung, dass sie sich aus der Politik heraushalten.

* Komplexe Branchen wie Informatik und Industrie überlässt die Elite notgedrungen den Unter­nehmerinnen und Ingenieuren, kurz: den Nerds. Doch diese haben kein Prestige und keine Lobby. Sie gehen auch lieber ins Ausland als für Putin zu sterben.

Das Charakteristische der autokratischen Ökonomie ist, dass sie in der Praxis das Synonym für politische Macht ist. Und das in zwei Richtungen:

1. Wer die richtigen Verbindungen zur Macht hat, bekommt das Geschäft.

2. Wer Geschäfte macht, bekommt Macht. Deshalb wird genau darauf geachtet, dass nur die richtigen Leute Geschäfte machen.

Letzteres wird bei Autokratien oft vergessen. Es gilt nicht nur, dass für die Karriere vor allem Loyalität und Verbindungen zählen – und Fähigkeiten fast nichts. Sondern es gilt auch umgekehrt: Wenn das Ziel der Führung Machterhalt ist, werden Kompetenz, Effizienz, Engagement per se als verdächtig angesehen.

Kurz: Zum Machterhalt in einem autokratischen Staat gehört notwendig die Sabotage aller Sektoren, in denen sich eine Gegen­macht formieren könnte.

Das Prinzip der Sabotage gilt natürlich auch für die Oligarchen selbst: Der Preis, Oligarch zu bleiben, ist politisches Eunuchentum. Auch ihre Macht bemisst sich fast ausschliesslich durch die Nähe zu Putins Ohr. Dazu wird von ihnen die Bereitschaft verlangt, Putins Projekte zu finanzieren: politische wie Trollfabriken, private wie Putins Palast. In diesem System des Machterhaltes durch Fesselung gelten wirtschaftliche Defizite im besten Fall als Kollateral­schäden. Im Schnitt sinkt das Brutto­sozialprodukt in einer Diktatur bei jedem weiteren Jahr des Mannes an der Macht um 0,12 Prozentpunkte. In Putins Russland sind die Paria-Sektoren die Industrie (Russland hat den Industrialisierungs­grad eines Schwellen­landes), die Provinz­regierungen und die Armee.

Auf den ersten Blick ist Russland ein Militärland. Es hat Atomraketen, die zweitgrösste Armee überhaupt – und der offizielle Mythos des Landes beruht noch immer auf dem Sieg über Nazideutschland.

Doch in Wahrheit steht die russische Armee gesellschaftlich nur wenig über den Kakerlaken in ihren Kasernen. Es ist kein Zufall, dass ganze Militär­einheiten, sogar die Atomraketen­silos, an die russische Mafia Schutzgeld zahlen – die Mafia steht höher in der Hierarchie. So werden Offiziere am Fernsehen verspottet, Generäle bei zu viel Popularität liquidiert, die Ausbildung ist schlecht, die Ausrüstung ebenfalls, die Manieren noch schlimmer: In den Kasernen herrscht oft Mobbing und Alkoholismus – es ist sogar nicht unüblich, dass Rekruten von ihren Offizieren in die Prostitution verkauft werden. Kein Wunder, es drückt sich, wer kann – die Rekruten kommen zur Mehrheit aus den armen östlichen Provinzen, in denen bestimmte Ethnien leben.

Der Grund ist einfach: Die Herrschaft Putins stützt sich auf die Sicherheits­dienste – deshalb wird die Armee möglichst tief unten gehalten. Und überall werden militär­fremde Geheimdienst­leute in die Hierarchie der Armee infiltriert. Und ansonsten im Zweifel die Unbeliebtesten und Unbegabtesten zum Offizier befördert.

Putins Autokratie spricht endlos von Überlegenheit und Stolz; was sie jedoch bewirkt, ist das, was ein Befall mit Parasiten immer bewirkt: Lähmung und Zerfall.

Quelle: Constantin Seibt, republik.ch

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