Tektonische Plattenverschiebungen im österreichischen Parteiensystem haben keinen Seltenheitswert. Neu ist, dass es diesmal die Grünen trifft. Sie stecken im SPD-Dilemma der 2000er Jahre – nur unter schwierigeren Vorzeichen. Eine Spaltung ist nicht unausweichlich, sie ist bereits vollzogen.

Meinungspluralität wird in österreichischen Parlamentsparteien – zumindest öffentlich - gerne mal hofiert. Vor allem die Grünen prolongierten mit ihrer – inzwischen etwas angestaubten Interpretation von ‚Basisdemokratie‘ – gerne die gutväterliche Version eines ‚Das-wird-man-wohl-noch-sagen-Dürfens“. Die Antwort der Parteispitze auf die jüngsten Attacken von Ex-Bundesrat Efgani Dönmez und NR-Urgestein Peter Pilz zeigen: Nein, alles darf man dann doch nicht diskutieren.

Die Gretchenfrage der Grünen – sowohl in Österreich, als auch Deutschland – betrifft nicht die Religion. Es sind die Flüchtlinge. Eigentlich ein Thema, das in die grüne Urkompetenz fällt. Sämtliche öffentlich zugänglichen Aussagen österreichischer und deutscher Grüner – seien sie von Dönmez, Pilz, der grünen Bundessprecherin Eva Glawischnig, dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer – fußen auf demselben Dilemma: Sollen alle, die einen Asylantrag stellen möchten, auch einen stellen dürfen?

Die Linie zwischen den Fronten ist relativ klar definiert. Auf der einen Seite jene, die es aus innerster Überzeugung zutiefst ablehnen, die Genfer Flüchtlingskonvention anders zu interpretieren als: „Jede und jeder darf einen Asylantrag stellen, der – mit zumindest zeitweiligem Aufenthaltsrecht - durch alle Instanzen geprüft werden muss.“ Etwaige Vorselektionen an der Grenze, Kontingentgrenzen oder verschärfte Abschottung durch massive Grenzsicherung stehen nicht zur Debatte. Zu dieser Fraktion zählen im Wesentlichen die Wiener Grünen, die burgenländischen Grünen, die grünen Jugendorganisationen sowie die engere Bundesspitze rund um Glawischnig.

Auf der anderen Seite gegenüber stehen Teile der Grünen Basis, der Landesorganisationen im Westen Österreichs sowie der Steiermark und prominentere Einzelplayer wie Pilz und Dönmez. Flüchtlingsströme begrenzen, Fokus auf Fluchtursachen, Wirtschaftsmigration aussieben, Kontingentlösungen vereinbaren – das sind die Schlagworte ihrer Parolen. Die Tatsache, dass in Deutschland einem Grünen Oberbürgermeister Tübingens die Flüchtlingspolitik einer CDU-Kanzlerschaft ob seiner Offenheit nicht geheuer ist, hätte man Helmut Kohl vor 20 Jahren auch nicht vortanzen können.

Man kann sich die internen Klubsitzungen gut vorstellen, in denen alle die Köpfe schütteln und sich sprachlos einander anschreien: „Es kann ja nicht wahr sein, dass du das wirklich so siehst.“ Erfreulich ist: Die Grünen müssen eine etwaige Spaltung nicht mehr befürchten. Sie ist längst eingetreten. Die einzige Frage die offenbleibt ist, ob sie auch vereinsrechtlich vollzogen wird, bevor die ganze Bewegung in den Abgrund gerissen wird.

Die Grünen stehen – sowohl in Österreich, als auch in Deutschland – vor ihrem Agenda2010-SPD-Moment. Die Zeit für Kompromisse oder innerparteiliche Annäherung ist im Angesicht der verhärteten Fronten abgelaufen. Zu stark rütteln die unterschiedlichen Interpretationen des grünen Kernthemas am inneren Selbstverständnis. Allein: Während mit Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder zwei charismatische Führungspersönlichkeiten die Fliehkräfte rund um ihre Positionen zu kontrollieren vermochten, ist dies bei den österreichischen Grünen nicht sicher. Es wird sich in den kommenden Wochen zeigen, ob Pilz und Glawischnig dem gewachsen sind.

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Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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